Und obwohl sie ganz genau wußte, daß es nicht stimmte, wurde sie die ganze Zeit über den gräßlichen Gedanken nicht los, daß es ganz allein ihre Schuld war.
KAPITEL 20
Die Schlacht hatte ihren Höhepunkt überschritten und dauerte noch eine halbe Stunde, aber weder im Turm noch auf dem Hof kehrte Ruhe ein. Robin wartete darauf, daß Salim zurückkam, wie er es versprochen hatte, aber sie blieb allein. Draußen auf der Treppe hallten ununterbrochen Schritte, Stimmen schrien durcheinander, und irgendwo über ihr hob ein emsiges Hämmern und Sägen an. Von Salim aber zeigte sich immer noch keine Spur, und schließlich begriff sie, daß er nicht kommen würde, und es wahrscheinlich auch nie wirklich vorgehabt hatte.
Also verließ sie ihren Unterschlupf und machte sich auf den Weg nach unten.
Zum ersten Mal, seit sie hier war, kam ihr der Turm eng und überfüllt vor. Zahlreiche Männer kamen ihr entgegen oder überholten sie auf dem Weg nach unten, alle in Hast und viele mit Holz, Werkzeugen, Eimern oder Bündeln mit Feuerholz und Reisig beladen. Robin wich ihnen aus, so gut sie konnte, und senkte meistens hastig den Blick, wenn ihr jemand von unten entgegenkam. Sie traute Salim durchaus zu, daß er den Befehl gegeben hatte, sie zu ergreifen und wieder in ihrer Kammer einzusperren, sollte sie sie verlassen.
Niemand nahm allerdings Notiz von ihr, und je weiter sie nach unten kam, desto klarer wurde ihr, daß sie ihre Wichtigkeit wohl kräftig überschätzt hatte. Salim und auch die anderen Ritter hatten im Moment andere Sorgen, als sich den Kopf über sie zu zerbrechen.
Trotz allem stahl sich ein flüchtiges Lächeln auf Robins Lippen, als ihr bewußt wurde, was sie gerade gedacht hatte: Salim und die anderen Ritter.
Sie hatte die untere Etage erreicht, hielt nach Salim Ausschau und sah zwar nicht ihn, wohl aber Bruder Abbé, der langsam und mit erschöpften, kleinen Schritten durch den Raum ging und die Tür und die vorgelegten Läden kontrollierte. Sie hatte nicht das Gefühl, daß diese Vorsichtsmaßnahme nötig war oder Abbé sie als wichtig erachtete. Vielmehr machte er den Eindruck eines Mannes, der einfach nur irgend etwas tat, weil er es nicht ertragen hätte, untätig zu sein.
Als er Robin entdeckte, hielt er in seinem ruhelosen Hin und Her inne und winkte sie heran. Robin gehorchte. Abbé maß sie mit einem langen, besorgten Blick und sagte dann: »Verrat mir eines, Kind: Liebt Gott dich nun ganz besonders, oder hast du schon so viele Sünden begangen, daß er dich auf diese Weise straft?«
Robin versuchte nicht einmal zu erraten, was Abbé mit diesen seltsamen Worten meinte. Vielleicht hatten sie keinen Sinn. Sie war nicht einmal ganz sicher, ob Abbé überhaupt wußte, wer vor ihm stand. Er war sehr blaß. In seinen Augen stand ein schwaches, aber eindeutig gefährliches Flackern, und seine Kleider waren zerrissen und voller Blut. Bisher hatte sie angenommen, daß das wenigste davon sein eigenes war, aber nun war sie gar nicht mehr so sicher. Vielleicht war er ja schwer verletzt und redete einfach irre.
»Wenn du auf meinen Rat gehört hättest und mit Karl gegangen wärst, dann wärst du jetzt wahrscheinlich tot«, fuhr Abbé fort. »So wie du tot wärst, hättest du damals meinen Befehl befolgt, nicht wieder zu der Kapelle zurückzukehren.« Er seufzte. »Wenn du trotzdem noch einen Rat von mir haben willst: Hör nie wieder auf mich, wenn ich dir einen Rat erteile.«
Er schmunzelte, aber Robin blieb ernst. Sie fand, daß Abbé einen bizarren Humor hatte, angesichts der Situation, in der sie sich alle befanden.
»Es ist gut, daß du da bist.« Abbé wechselte nicht nur das Thema, sondern auch seine Art zu reden. »Wir können jede Hand gebrauchen. Komm mit mir.«
Er legte die Hand auf ihre Schulter und dirigierte sie vor sich her auf die einzige Tür zu, die es hier unten - abgesehen vom Eingang - gab. Dahinter lag ein großer, langgestreckter Raum, der normalerweise wohl als Lager genutzt wurde, im Augenblick aber zu einem provisorischen Hospital umfunktioniert worden war. Robin gewahrte zahlreiche Verwundete, die lang ausgestreckt auf zwei großen Tischen, aber auch auf dem nackten Boden lagen. Andere saßen mit hängenden Schultern und leerem Blick vornübergebeugt auf Stühlen oder krümmten sich vor Schmerz. Ein gedämpftes, aber anhaltendes Stöhnen und Wehklagen erfüllte den Raum, und der durchdringende Geruch nach Blut und Leid lag in der Luft.
Robin hätte erleichtert sein müssen, daß ihr erster - im nachhinein betrachtet absurder - Gedanke, nämlich daß Abbé ihr eine Waffe in die Hand drückte und sie zur Verteidigung des Turms einteilte, nicht wahr wurde, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Offenbar erwartete der Tempelritter von ihr, daß sie sich um die Verletzten kümmerte, und dieser Gedanke erschreckte sie noch viel mehr. Es war weniger als eine Stunde her, daß die Kampfhandlungen ihren Anfang genommen hatten, aber sie fühlte sich, als tobe die Schlacht seit Tagen. Ihre Welt hatte sich in ein klebriges Gewirr aus Furcht, Schmerzen und Gewalt verwandelt, in das sie sich immer tiefer und tiefer verstrickte, je mehr sie sich bemühte, daraus zu entkommen, und noch während Abbé sie vor sich her durch den Raum bugsierte, wurde ihr klar, daß es durchaus noch etwas Schlimmeres gab, als dem Wüten der Kriegsbestie zuzusehen - nämlich den Anblick ihrer Opfer. Hätte sie in diesem Moment die Wahl gehabt, dann hätte sie, ohne zu zögern, nach Schild und Schwert gegriffen, um sich den Verteidigern anzuschließen, statt in diesem Schlachthaus zu stehen und sich innerlich beim Anblick zerschnittenen Fleisches und zerbrochener Glieder zu krümmen.
Sie hatte diese Wahl nicht. Abbé teilte sie einem Mann zu, der ihr ohne viel Federlesens eine Schale mit Wasser und Verbandszeug in die Hände drückte und ihr auftrug, sich in eigener Regie um die Verletzten zu kümmern. Sie tat es, so gut sie konnte - was vermutlich nicht besonders gut war. Robin hatte wenig Erfahrung in solcherlei blutigem Handwerk. Natürlich hatte es im Dorf auch mancherlei Verletzungen gegeben, Unfälle oder auch pures Ungeschick, so daß ihr der Anblick von Blut nicht vollkommen fremd war, aber es war auch stets jemand dagewesen, der sich darum kümmerte, so daß ihre Rolle auf die einer bloßen Beobachterin reduziert worden war, und auch das meistens nur für einen - wortwörtlichen - Augenblick. Hier nun mußte sie zupacken, ob sie wollte oder nicht. Es gab zahlreiche Schnitt- und Stichwunden zu versorgen, Blutungen zu stillen oder manchmal auch einfach nur ein tröstendes Wort zu sprechen, und schon bald begannen Entsetzen und Ekel zu einem dumpfen Druck in ihrem Inneren herabzusinken, der quälend war, sie aber bei ihrem Tun nicht mehr wirklich behinderte.
Und es war eine schauderhafte Arbeit. Bald unterschied sich Robin auch äußerlich nicht mehr von den Verletzten, denen sie half. Sie war genauso blutig und nicht weniger erschöpft, und das Entsetzen in ihren Augen war wohl kaum weniger groß als das in den Blicken der Männer. Sie nahm an, daß sie vielen von ihnen zusätzliche und unnötige Schmerzen bereitete, weil sie sich so ungeschickt anstellte, aber niemand beklagte sich, und niemand machte ihr Vorwürfe, nicht einmal Abbé, als er einmal ihre Hand beiseite schob und ihr mit einem wortlosen Kopfschütteln zu verstehen gab, daß sie etwas falsch gemacht hatte.
Nach einer halben Stunde, die ihr wie eine ganze Ewigkeit vorgekommen war, betraten zwei Tempelritter den Raum - Xavier und Jeromé, soweit sie das unter all dem Blut und Schmutz auf ihren Gesichtern beurteilen konnte - und traten an einen der Tische, auf denen ein Verwundeter aufgebahrt worden war. Robin hatte es bisher vermieden, mehr als einen flüchtigen Blick auf den Mann zu werfen, aber ihr war klar, daß es sich um einen der besonders schwer Verletzten handeln mußte.