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Jeromé und Xavier machten jedoch keine Anstalten, sich um seine Wunden zu kümmern. Jeromé faltete die Hände und begann mit leiser Stimme auf lateinisch zu beten, während Xavier mit schnellen Schritten um den Tisch herumging und die Hand nach dem Gesicht des Mannes ausstreckte. Robin konnte nicht genau erkennen, was er tat, und sie wagte es auch nicht, näher heranzugehen, aber es sah aus, als male er dem Bewußtlosen mit dem Daumen das Kreuzzeichen auf Stirn, Nasenflügel und Wange, wobei auch seine Lippen die lautlosen Worte eines Gebets murmelten.

»Was tun sie?« fragte Robin.

Abbé, der dicht neben ihr stand und seinen Brüdern bisher schweigend zugesehen hatte, antwortete leise: »Er bekommt die Letzte Ölung, Kind.«

»Er stirbt?«

»Bald wird er vor Gottes Thron knien, und seiner Seele werden die ewigen Freuden des Paradieses angedeihen«, antwortete Abbé. »Seine irdischen Leiden sind vorüber.« Er lächelte, auf eine Art, die Robin fast Angst machte; vielleicht, weil sie spürte, daß Bruder Abbé in diesem Moment tatsächlich an das glaubte, was er sagte. »Unsere irdische Existenz ist nicht von langer Dauer, mein Kind, und sie ist nur zu oft ein Jammertal, durch das wir gehen müssen. Aber die, die stark im Glauben sind, belohnt Gott dafür mit den himmlischen Freuden des Paradieses.«

Robin blickte auf ihre blutbesudelten Hände hinab. Wenn das so war, dachte sie, warum machten sie sich dann alle diese Mühe, statt den Verwundeten gleich die Kehlen durchzuschneiden, damit sie früher in den Genuß der himmlischen Freuden kamen?

Abbé sah sie erschrocken an, und auch Xavier unterbrach sein Tun und warf ihr einen geradezu vernichtenden Blick zu. Robin konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern - aber sie mußte die Worte wohl laut ausgesprochen haben. Und zwar laut genug, daß nicht nur Abbé sie verstanden hatte.

»Du... du bist verwirrt, Kind«, sagte Abbé hastig. Er wirkte verunsichert, erschrocken. »Das ist nur verständlich. Nicht jeder erträgt den Anblick von so viel Schmerz und Leid. Wäre es anders«, fügte er nach kurzem Zögern - und mehr an Xaviers und Jeromés Adresse gewandt als wirklich an sie - hinzu, »so könnte man deine Worte als Ketzerei auslegen, weißt du das?«

Robin schüttelte den Kopf, und die Reaktion in Abbés Augen machte ihr klar, daß er innerlich darum gezittert hatte, daß sie diese Antwort gab, und nicht etwa eine andere. »Dann bedenke in Zukunft deine Worte, bevor du sie aussprichst«, fuhr Abbé fort, nun schon in etwas strengerem Ton. »Ketzerei ist eine schwere Sünde. Du weißt doch, was eine Sünde ist?«

»Ja«, murmelte Robin. »Bitte verzeiht.«

Nun wirkte Abbé eindeutig erleichtert, und nach einem weiteren Moment wandte sich auch Xavier wieder um und fuhr fort, den Sterbenden zu salben. Abbé atmete hörbar auf.

Nur, um überhaupt etwas zu sagen, deutete Robin auf den Sterbenden und fragte: »Wie viele?«

Abbés Blick verdüsterte sich. »Fünf«, antwortete er. »Sechs, mit ihm. Es ist furchtbar.« Er schlug das Kreuzzeichen vor Stirn und Brust.

»Und es könnte noch viel furchtbarer werden.« Salim betrat den Raum, warf seinen Schild mit einer achtlosen Bewegung auf den Boden und riß sich den Schleier vom Gesicht. »Sie bereiten sich auf den nächsten Angriff vor.«

»Diese Narren«, antwortete Abbé, und plötzlich war wieder die alte Überheblichkeit in seiner Stimme. »Lassen wir sie sich ihre Köpfe an den Mauern einrennen.«

»Euer Vertrauen in die Festigkeit dieser Mauern in Ehren, Bruder Abbé«, sagte Salim, »aber darf ich Euch daran erinnern, daß sie keine halbe Stunde gebraucht haben, um den Hof zu erobern und dabei ein halbes Dutzend unserer Männer zu erschlagen?«

»Und dreimal so viele von ihnen«, antwortete Abbé. »Der Hof war nicht zu halten. Es wäre dumm gewesen, ein Gebäude verteidigen zu wollen, das nicht zu verteidigen ist. Es war von Anfang an mein Plan, daß wir uns so schnell wie möglich hierher zurückziehen. Wir können wochenlang hier ausharren, wenn es sein muß.«

Salims Blick machte klar, was er von diesen Worten hielt, aber er war klug genug, die fruchtlose Diskussion nicht fortzusetzen und womöglich zu einem ausgewachsenen Streit eskalieren zu lassen.

»Trotzdem solltet Ihr vielleicht einen Blick nach draußen werfen«, sagte er. »Ich weiß nicht genau, was sie tun - aber es gefällt mir nicht.«

Abbé drehte sich zwar vollends zu ihm herum, blieb aber stehen, wo er war und wartete, bis Jeromé und Xavier mit ihren Gebeten zu Ende gekommen waren; in ziemlicher Eile, wie Robin fand. Sie hütete sich zwar, eine entsprechende Bemerkung zu machen, aber sollte ein Geistlicher nicht bei einem Sterbenden verweilen, bis seine Leiden zu Ende waren? Der Mann jedoch lebte noch, als die beiden Tempelritter von seinem Lager zurücktraten.

Sie verließen den Raum und begaben sich in den zweiten Stock hinauf. Da keiner der Ritter Einwände erhob, schloß sich Robin den Männern (und vor allem Salim) an. Es war noch wärmer im Turm geworden, die Luft roch stickig und war vom Geruch brennenden Holzes und von Rauch durchdrungen.

Den Grund dafür erkannte Robin, als sie hinter Salim in einen großen Raum im zweiten Stock traten, dessen Gucklöcher auf den Innenhof hinaus führten. Beißender Rauch lag in der Luft und sammelte sich zu einer schmutziggrauen Wolke unter der Decke. Sein Ursprung war ein prasselndes Feuer, das unter einem großen Kupferkessel brannte, der zwischen den beiden Fenstern aufgestellt worden war. Es war so heiß, daß Robin sich überwinden mußte, um nicht gleich wieder rückwärts aus der Tür zu wanken.

Salim deutete zum Guckloch. Abbé ging wortlos hin, blickte einen Moment hinaus und trat dann kopfschüttelnd zurück.

»Dummköpfe«, sagte er verächtlich.

Robin wartete, bis auch Xavier und Jeromé zum Guckloch hin und wieder zurückgetreten waren, dann schob sie sich vorsichtig an dem heißen Kessel vorbei. Er schien nichts anderes als Wasser zu enthalten, das allerdings kurz vor dem Siedepunkt stand. Ihr war natürlich klar, wozu dieser Kessel diente, aber irgendwie gelang es ihr, den Gedanken nicht an sich herankommen zu lassen.

Gunthars Krieger hatten sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes versammelt. Nicht alle, vielleicht dreißig an der Zahl, die aber trotzdem einen beeindruckenden Trupp bildeten. Obwohl fast außer Schußweite, trugen die Männer in der ersten Reihe ausnahmslos große Schilde, von denen viele aussahen, als wären sie gerade erst in aller Hast zusammengezimmert worden. Sie hatten sich um etwas geschart, das Robin nicht genau erkennen konnte, aber sehr groß war.

»Ich hätte Gunthar für klüger gehalten«, grollte Xavier. »Er wirft die Leben seiner Männer weg, als wären sie nichts wert.«

»Der Kummer um den Verlust seines Sohnes muß ihm den Verstand verwirrt haben«, sagte Abbé, und Jeromé fugte hinzu: »Oder er hat einen schlechten Berater.«

»So schlecht nun auch wieder nicht.« Salim deutete über den Hof, auf das Dach des Pferdestalles. Dort war ungefähr ein halbes Dutzend Männer in Stellung gegangen, die mit großen, gefährlich aussehenden Bögen bewaffnet waren. »Es ist Zeit für Euer Nachmittagsgebet. Sie werden angreifen, wenn sie Euch auf den Knien und tief ins Gebet versunken wähnen.«

Wie, um seine Worte zu bestätigen, hoben die Männer auf dem Dach in diesem Moment ihre Bögen und schössen eine erste Pfeilsalve ab. Nur wenige trafen überhaupt den Turm, und nicht ein einziger kam dem Guckloch auch nur nahe, aber die Salve war zugleich wohl auch das Signal zum Angriff gewesen, denn die Krieger unten auf dem Hof setzten sich in Bewegung, und als sich ihre Reihen teilten, sah Robin auch, woran sie während der letzten Stunden offenbar gearbeitet hatten: Durch eine schmale Gasse in dem Schildwall, den Gunthars Soldaten bildeten, rollte ein Leiterwagen heran, den sie offenbar kurzerhand aus dem Fundus der Komturei konfisziert hatten. Mit groben Stricken, aber auch Ketten war ein gewaltiger Balken daraufgebunden worden, in dem Robin beim zweiten Hinsehen den zentnerschweren Riegel erkannte, mit dem zuvor das Tor verschlossen gewesen war. Nun war er zu einem Rammbock geworden, der durchaus massiv genug sein mochte, um die Tür des Turms einzuschlagen.