»Das habe ich nicht«, sagte Jan bitter. »Mein Vater hat die Entscheidung für mich getroffen. Und glaube bloß nicht, daß ich sie nicht schon bereut hätte. Jeden, jeden und jeden Tag, seit ich diese verfluchte Komturei das erste Mal betreten habe!«
»Aber ich dachte, du wärst stolz darauf, ein Ritter zu sein!«
»Ein Ritter?« Jans Stimme wurde bei diesen beiden Worten schrill, aber er lachte nicht. »Du glaubst, das wäre ich? Ich will dir sagen, was ich bin: Ich bin sein Büttel!« Er deutete auf die Kapelle. »Ich bin nichts als ein Laufbursche, der den Dreck wegräumen darf. Und meine bisher größte Belohnung besteht darin, darauf zu achten, daß das schmutzige Geheimnis eines geilen alten Bocks nicht an den Tag kommt!«
Darauf wußte Robin nun gar nichts mehr zu erwidern. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage war ihre Welt aus den Fugen geraten. Sie hatte gerade erst angefangen zu begreifen, daß es jenseits der Wälder und des Flusses noch eine andere, viel aufregendere und größere Welt gab, und nun sollte sie glauben, daß sie vielleicht schlimmer war als die, die sie bisher kannte? Das konnte und wollte sie nicht.
Als sie wieder zu Jan hochsah, hatte er sich beruhigt. Der Zorn auf ein Schicksal, gegen das er vollkommen machtlos war, war so schnell wieder verraucht, wie er gekommen war. Er kaute auf seinem Grashalm herum und lächelte sogar - auch wenn sie nun argwöhnte, daß das, was sie bisher für den Ausdruck eines tiefen inneren Friedens in seinen Augen gehalten hatte, in Wahrheit nichts anderes als Resignation darstellte. »Aber selbst wenn du dumm genug wärst, all das auf dich zu nehmen, Robin, so gibt es noch zwei weitere Gründe, die es dir vollkommen unmöglich machen, ein Tempelritter zu werden. Der eine ist deine Herkunft. Nur wer adeligen Geblüts ist, darf ein Tempelritter werden.«
»Adelig? Bist du das denn?« Robin blinzelte verwirrt. Der einzige Edelmann, den sie kannte, war der Lehnsherr, der alle paar Jahre ins Dorf kam, um sich huldigen zu lassen, und sich mit seinem Gefolge über einen Gutteil der ohnehin knappen Vorräte hermachte, bevor er wieder verschwand und die Dörfler drei Kreuze hinter ihm her machten in der Hoffnung, daß sein nächster Besuch möglichst lange auf sich warten lassen würde. Doch dafür kamen dann seine Steuerschätzer und -eintreiber um so öfter. Nein, der Lehnsherr war kein guter Mensch, und nach allem, was Robin aus den Gesprächen der Erwachsenen aufgeschnappt hatte, waren die meisten anderen Adeligen auch nicht besser. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß auch Jan zu dieser Sorte von Menschen gehören sollte. Trotzdem mußte sie sich beherrschen, um nicht ganz instinktiv ein Stück von ihm wegzurücken.
»Oh ja, das bin ich. Wenn auch nur...« Er lächelte und deutete einen winzigen Zwischenraum zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand an. »... ein ganz Kleiner. Mein vollständiger Name lautet Jan von Tronthoff.«
»Tronthoff?« Robin runzelte die Stirn und tat so, als müsse sie angestrengt nachdenken. »Davon habe ich noch nie gehört.«
»Und was besagt das?« Jan hob besänftigend die Hand, obwohl sie gar nicht auf seine Frage reagiert hatte. »Das war gemein. Verzeih. Es besagt wirklich nichts, ob du von Tronthoff gehört hast oder nicht. Niemand hat das, weißt du? Das Baronat meines Vaters liegt hoch oben im Norden, fast schon im Dänischen, und es besteht aus nicht viel mehr als einem zugigen Turm auf einer Felsspitze, den mein Vater sein Schloß nennt, und einem halben Dutzend Bauernhöfe und einer Handvoll Fischer, aus denen er gerade genug herauspressen kann, um das Dutzend Halsabschneider zu bezahlen, das er seine Armee nennt. Ich glaube, die Summe, die er dem Orden stiften mußte, damit sie mich aufnehmen, hat sein gesamtes Vermögen verschlungen.«
»Aber warum hat er es dann getan?« wunderte sich Robin. Sie wunderte sich auch noch über etwas anderes - nämlich über den Haß, den sie in Jans Stimme vernommen hatte, als er über seinen Vater sprach.
»Weil er ein geltungsbedürftiger alter Narr ist«, antwortete Jan, nun scheinbar leidenschaftslos. »Es hat ihm wohl alles bedeutet, seinen einzigen Sohn zu einem Tempelritter gemacht zu haben. Ein von Tronthoff, der nach Jerusalem zieht, um gegen die Heiden zu kämpfen! Pah!«
Er spie seinen Grashalm aus, zupfte sich einen neuen und sagte: »Sei froh, daß du nicht adelig bist, Robin. Du wirst vielleicht immer arm bleiben, aber dein Leben ist dafür um vieles einfacher.«
Robin wußte nicht, was sie sagen sollte. Das Gespräch bereitete Jan sichtlich Unbehagen, vielleicht sogar Schmerz, und das wollte sie nicht. Vielleicht nur, um das Thema zu wechseln, sagte sie: »Du... hast von zwei Gründen gesprochen, warum ich kein Tempelritter werden kann. Was ist der andere?«
»Nur Männer können Tempelritter werden«, antwortete Jan, »und du bist ein Mädchen.«
»Woher...« Robin brach ab und biß sich ärgerlich auf die Unterlippe. Jans Worte hatten sie so überrascht, daß sie sich nun praktisch selbst verraten hatte. Trotzdem versuchte sie noch ein letztes Mal, sich herauszureden. »Ich meine: Wie kommst du auf diese verrückte Idee?«
Jan seufzte. »Du hältst mich für dumm, wie? Ich könnte dich jetzt auffordern, dein Gewand hochzuheben, um mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber das ist gar nicht nötig.« Er lächelte. »Hat dir noch nie jemand gesagt, daß du hübsch bist?«
»Hübsch? Ich?« Jan nahm sie auf den Arm. Helle war hübsch, und Gese, die Frau des Müllers. Vielleicht noch ihre Mutter - aber sie doch nicht!
»Du wirst einmal eine sehr schöne Frau«, behauptete Jan, »und es wird nicht einmal sehr lange dauern. Aber das ist es nicht allein. Es gibt auch hübsche Knaben. Nur«, fügte er nach einem Blinzeln und grinsend hinzu, »daß man ihre Brüste nicht sieht, wenn sie sich vorbeugen.«
»Oh«, machte Robin verlegen. Sie sah an sich herab. So, wie sie jetzt dasaß, in das grobe und viel zu große Gewand gehüllt, das nicht nur vom Stoff her weit mehr Ähnlichkeit mit einem Sack als einem wirklichen Kleidungsstück hatte, sah man absolut nichts. Tatsache war aber, daß ihre Brüste vor bereits gut zwei Jahren angefangen hatten zu sprießen. Sie hatten noch längst nicht die Größe wie die ihrer Mutter oder gar die Helles, waren offensichtlich aber bereits verräterisch genug - jedenfalls für einen solch aufmerksamen Beobachter wie Jan von Tronthoff.
»Und noch etwas«, sagte Jan. »Bei einem unserer Treffen neulich war Blut im Gras, dort, wo du gesessen hast. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder, du leidest an dem schlimmsten Fall von Hämorrhoiden, von dem ich je gehört habe, oder du bist ein Mädchen.«
Er schien auf eine ganz bestimmte Reaktion zu warten, aber als diese nicht kam, sondern Robin ihn nur weiter betroffen anblickte, wurde er wieder sehr ernst und fragte leise und kopfschüttelnd: »Hat dich deine Mutter denn gar nichts über deinen Körper gelehrt?«
»Doch«, antwortete Robin. »Nur...«
»Nur nicht genug, scheint mir«, seufzte Jan. »Gerade das, was unumgänglich notwendig war, und wahrscheinlich nicht einmal das. Es ist immer dasselbe. Also nimm einen guten Rat von mir an, Robin - ist das überhaupt dein richtiger Name?«
Robin nickte. Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, begannen ihre Hände und Knie leicht zu zittern. Sie fühlte sich ertappt, und das Gefühl, ausgerechnet Jan belogen zu haben, machte es besonders schlimm.
»Bleib ruhig dabei, dich für einen Jungen auszugeben, wenigstens Fremden gegenüber, von denen du nicht weißt, ob du ihnen trauen kannst. Aber du solltest dich schnüren, und wenn du fühlst, daß sich... gewisse Tage ankündigen, dann sorge dafür, daß dein eigener Körper dich nicht verrät.«