»Das trifft sich gut.« Abbé drehte sich mit einer müden Bewegung von er Maueröffnung weg und sah Gunthar an. »Wir alle sind müde, Gunthar. Es ist zuviel geschehen. Ihr erinnert Euch an Robin, das Mädchen aus dem Dorf?«
Er wies auf Robin, und Gunthars Blick folgte der Bewegung. Er wirkte überrascht, fast als hätte er ihre Anwesenheit bis jetzt noch nicht einmal bemerkt.
»Ich sagte Euch, daß wir die Hoffnung hätten, sie würde ihre Sprache wiederfinden«, fuhr Abbé fort. »Sie hat sie wiedergefunden, und wir wissen nun, was sich in jener Nacht wirklich zugetragen hat.«
»Aus dem Mund einer Bauerndirne?« fragte Otto verächtlich. Sein Blick irrte durch den Raum, wie der eines verängstigten Tieres, das verzweifelt nach einem Fluchtweg sucht.
»Wenn Ihr gestattet, Gunthar, so werdet Ihr sie aus meinem Mund hören«, sagte Jeromé, ohne Otto auch nur eines Blickes zu würdigen. »Das Sprechen bereitet ihr noch immer große Mühe. Es würde zu lange dauern, so daß Ihr mir gestatten mögt, Euch zu erzählen, was ich aus ihrem Mund erfahren habe. Natürlich könnt Ihr mich jederzeit unterbrechen und Euch selbst mit einer Frage an sie wenden. Seid Ihr damit einverstanden?«
»Das ist grotesk!« sagte Otto.
Gunthar nickte.
»Das Mädchen war in jener Nacht draußen bei der alten Kapelle, nahe ihres Dorfes«, begann Jeromé. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, so hatte sie dort Blumen auf eines der Gräber gelegt. Als sie gerade nach Hause gehen wollte, da sah sie eine Anzahl Reiter, die sich der Kapelle näherten. Sie bekam Angst und hat sich versteckt.«
»Reiter? Wen?« Gunthar sah seinen Sohn an.
»Reiter, die Kleider wie diese hier trugen.« Jeromé deutete auf sich selbst. »Die Kleider von Tempelrittern. Sie legten eine letzte Rast bei der Kapelle ein - um ihre Pläne zu besprechen. Robin hat sie belauscht.«
»Und zweifellos auch erkannt«, sagte Otto. »Wie lange sollen wir uns diesen Unsinn noch anhören?«
»Schweig, Otto«, sagte Gunthar noch einmal. »Laß sie reden.«
»Sie hat sie erkannt«, bestätigte Jeromé. »Und sie hatte große Angst - immerhin mußte sie mit anhören, wie diese Männer den Mord an ihrer Familie planten, und an allen, die sie kannte.«
»Ist das wahr?« fragte Gunthar.
Robin nickte, und Jeromé fuhr fort: »Sie hat gewartet, bis die Männer wieder fort waren, dann ist sie losgelaufen, um ihre Leute zu warnen. Aber natürlich kam sie zu spät. Sie mußte hilflos mit ansehen, wie die vermeintlichen Tempelritter ihre Mutter erschlugen, und die Überlebenden wie Vieh zusammengetrieben wurden. Wären Eure Söhne nicht im letzten Moment erschienen, Gunthar, dann hätten sie den Ort zweifellos schon an diesem Abend niedergebrannt und alle seine Bewohner getötet.«
Robin sah, wie Abbé überrascht blinzelte und zwischen Salims Brauen eine steile Falte erschien. Aber sie hielt Gunthars bohrendem Blick eisern Stand. Jeromé hatte ihr eingeschärft, was sie zu sagen hatte - und er hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß nicht nur ihr Leben davon abhing, was sie antwortete.
»Warum sollte jemand so etwas tun?« fragte Gunthar.
»Aus dem gleichen Grund, aus dem er die Geschichte mit dem angeblichen Tempelritter konstruiert hat, der eine Affäre mit einer Frau aus dem Dorf gehabt haben soll«, antwortete Jeromé. »Um uns in Mißkredit zu bringen.«
»Das ist doch lächerlich!« sagte Otto. Seine Stimme war um eine Spur schriller geworden, und sein Blick klebte nun regelrecht an Robins Gesicht. Auch Gernot wirkte nervös, aber auf eine vollkommen andere, fast verwirrte Art.
»Ich höre mir das nicht länger an!«
»Nur noch einen kleinen Moment«, sagte er, wobei er seinen Blick zum ersten Mal direkt an Otto wandte. »Wir sind auch gleich am Ende... Gernots Erscheinen rettete dem Mädchen das Leben, aber den feigen Mördern mußte wohl klar gewesen sein, daß sie um ihr Geheimnis wußte, denn nachdem sie Euren Bruder erschlagen haben, Gernot, kamen sie zurück, um Robin zu entführen. Sie verschleppten sie an einen Ort ganz hier in der Nähe, wo sie ihr die Kehle durchschnitten. Sie hielten sie für tot und ließen sie dort liegen - zweifellos, damit man sie findet und uns ihren Tod auch noch anlastet.«
»Was für eine phantasievolle Geschichte«, sagte Otto höhnisch. »Wahrlich, Jeromé, Ihr solltet Euch einen Teppich besorgen und Euch zu Euren muselmanischen Freunden auf einen Basar setzen, um Märchenerzähler zu werden. Wie schade nur, daß Ihr nichts davon beweisen könnt.«
»Aber wir können sie beweisen«, sagte Jeromé.
Otto starrte ihn an, und auch Gernot wurde eine Spur blasser.
»Robin hat den Mann erkannt, der versucht hat, sie zu töten«, fuhr Jeromé fort. »Den Anführer der vermeintlichen Tempelritter. Der gleiche Mann, der Gernot verletzt und vermutlich auch Gundolf getötet hat, Gunthar.«
»Wer?« fragte Gunthar.
Robin hob die Hand und deutete auf Otto. »Er«, sagte sie.
»Das ist grotesk!« sagte Otto. Seine Stimme wurde schrill. Gunthar sah einfach nur verwirrt aus, während sein Sohn alle Mühe hatte, sich seine Erleichterung nicht offen anmerken zu lassen.
»Sie lügt!« behauptete Otto. »Ihr... Ihr werdet ihr diese absurde Geschichte doch nicht etwa glauben!«
»Vergangene Nacht«, fuhr Jeromé fort, »drang ein maskierter Mann in die Komturei ein und versuchte Robin zu töten. Sie konnte entkommen, aber Bruder Tobias wurde schwer verletzt und wird vielleicht sterben. Jemandem war wohl daran gelegen, einen womöglich gefährlichen Zeugen zu beseitigen.«
»Und das war selbstverständlich auch ich«, höhnte Otto.
»Wo wart Ihr vergangene Nacht?« fragte Jeromé. »Auf jeden Fall nicht bei Gunthar und seinen Männern.«
»Ich war auf Burg Elmstatt«, antwortete Otto nervös. »Dafür gibt es Zeugen.«
»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte Jeromé spöttisch. »Aber sagt, Otto: Woher habt Ihr die Verletzung an Eurer rechten Hand?«
Otto hob die Hand und ballte sie zur Faust. Ein schmaler, längst durchgebluteter Verband spannte sich über den Handrücken und zwischen Daumen und Zeigefinger. »Von einem Eurer tapferen Krieger«, antwortete er böse. »Leider könnt Ihr ihn nicht mehr fragen - er ist nicht ganz so gut weggekommen, fürchte ich.«
»Abbé - was soll das?« fragte Gunthar. »Habt Ihr mich herkommen lassen, um mich mit haltlosen Vorwürfen zu konfrontieren oder den Fieberphantasien eines Kindes?«
Abbé wollte antworten, aber Jeromé hob rasch die Hand und wandte sich wieder an Otto. »Noch eine letzte Frage«, sagte er. »Ihr tragt einen wunderschönen Dolch, Otto. Würdet Ihr ihn uns einmal zeigen?«
Otto schürzte nur widerborstig die Lippen, aber Gunthar deutete ein Nicken an, und nach einem weiteren Zögern zog Otto die Waffe aus dem Gürtel und warf sie mit einer trotzigen Bewegung auf den Tisch. Es war ein prachtvoller, fast handlanger Dolch mit einer doppelseitig geschliffenen Klinge und edelsteinbesetztem Griff. Seine Spitze war abgebrochen.
»Eine wunderschöne Waffe«, sagte Jeromé. »Schade nur, daß sie beschädigt ist. Aber ich glaube, ich kann Euch behilflich sein.« Er griff unter sein Gewand, zog ein sauber zusammengefaltetes weißes Tuch heraus und legte es neben dem Messer auf den Tisch. Beinahe schon zu langsam faltete er es auseinander. Unter dem weißen Tuch kam ein winziger Metallsplitter zum Vorschein. Es war die abgebrochene Spitze des Dolches.
»Wie es der Zufall will, paßt dieses Stück haargenau dazu«, fuhr Jeromé fort. »Aber vielleicht ist es ja gar kein Zufall, und vielleicht sollte dieses Stück Eisen jetzt eigentlich in Robins Herz stecken, nicht wahr?«
Otto schwieg, aber Gunthar sog scharf die Luft ein und fragte: »Woher habt Ihr das?«
»Aus Robins Zimmer«, antwortete Jeromé. »Es steckte in der Wand neben der Tür, genau dort, wo der Mörder sie angriff. Er hat sie verfehlt, und das Messer fuhr gegen die Wand und brach ab.« Er schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich bin sicher, Ihr habt es nicht einmal bemerkt, Otto. Ihr solltet wirklich besser auf Eure Waffen achten.«