Sie mußte sich ohnehin nicht überanstrengen. Abbé trug ihr allerlei kleine Pflichten auf, die fast alle eines gemeinsam hatten: Sie sorgten dafür, daß sie sich oft in seiner Nähe aufhielt oder ihre Wege sich zumindest mehrmals am Tage kreuzten. Anfangs glaubte sie, es wäre nichts als reiner Zufall, danach - in Rückschau des Gespräches, das sie mit Salim geführt hatte -, daß Abbé sie auf diese Weise vor Jeromé und den anderen Rittern schützen wollte. Sie spürte eine zunehmende Unruhe in sich, obwohl sie nicht einmal genau hätte sagen können, warum. Gleichwohclass="underline" Das Gefühl war da, und es wurde allmählich stärker.
Vielleicht lag es an der Art, auf die Abbé sie manchmal ansah - meistens, wenn er glaubte, sie merke es nicht. Dann war etwas in seinen Augen, was ihr beinahe Angst machte.
Es waren zwei Wochen seit der Schlacht vergangen - mithin war es die dritte, die sie in der Komturei verbrachte -, und sie war mit ihrer Arbeit fertig und überlegte gerade, ob sie Bruder Tobias besuchen sollte. Bei allem Schlimmen hatte Gott doch ein kleines Wunder bewirkt und Tobias überleben lassen. Er befand sich bereits auf dem Wege der Besserung und entwickelte sich zu einer Plage für die, die ihn pflegten. Abbé hatte einmal die Bemerkung gemacht, daß Ärzte die schlimmsten Patienten seien, und seit Tobias sich kräftig genug fühlte, um aufzustehen - ohne es indes zu sein -, verstand sie auch, was er damit gemeint hatte.
Bevor sie jedoch zu einer Entscheidung gelangen konnte, kam Salim quer über den Hof auf sie zu und winkte. Sie blieb stehen, erwiderte seinen Gruß und sah ihm fragend entgegen. Seit zwei oder drei Tagen hatte sie Salim kaum gesehen. Er war mit wichtigen Dingen beschäftigt gewesen und hatte oft Stunden mit Abbé und den anderen Rittern im Gespräch verbracht. Robin hatte nicht gefragt, worum es dabei ging; nicht nur, weil sie ohnehin ahnte, daß sie keine Antwort bekommen würde, sondern auch, weil sie es gar nicht wissen wollte. Sicherlich ging es wieder um Politik, jenes Wort, dem bisher immer etwas Schlimmes vorausgegangen oder gefolgt war, wenn sie es gehört hatte.
»Hast du Zeit?« begann Salim übergangslos.
Robin antwortete nicht gleich. Normalerweise stellte Salim solche Fragen nicht, sondern sagte ihr, was sie zu tun hatte.
»Bruder Abbé ... wollte noch etwas von mir«, antwortete sie. Das Sprechen fiel ihr jetzt leichter, bereitete ihr aber trotzdem noch Mühe und manchmal auch Schmerzen, so daß sie sich angewöhnt hatte, langsam und nicht allzu laut zu reden.
»Bruder Abbé und die anderen haben gerade ihr Gebet begonnen«, sagte Salim. »Sie sind mindestens eine Stunde beschäftigt - falls ihnen nicht noch ein paar zusätzliche Vaterunser oder Ave Maria über die Lippen kommen.« Er verzog abfällig das Gesicht. »Komm mit.«
So selbstverständlich, wie er dies sagte, so selbstverständlich folgte Robin ihm auch. Sie war Gehorsam gewohnt, und sie nahm ihm diesen befehlenden Ton nicht übel. Es war eben seine Art. Eine recht sonderbare Art für einen Sklaven - aber daß er das war, daran glaubte Robin sowieso schon lange nicht mehr. Und Salim gab sich im Grunde auch gar keine Mühe mehr, diese Lüge aufrechtzuerhalten.
Sie begaben sich zum Torhaus, und Salim führte sie zu der schmalen Stiege, die hinauf zum Dachboden führte, auf dem sie den ersten Angriff von Gunthars Männern erwartet hatten. Robin zögerte, hinter ihm durch die hölzerne Tür zu treten. Was wollten sie dort oben? Der Dachboden wurde mittlerweile wieder zum Heutrocknen genutzt, stand ansonsten aber leer, weshalb sich normalerweise kein Mensch hierhin verirrte.
»Nun komm schon«, sagte Salim. Er klang ein wenig ungeduldig. Sein Blick irrte unstet über den Hof, fast als hätte er Angst, daß sie jemand beobachten könnte. »Keine Angst - ich habe nicht vor, dir etwas anzutun.«
Seine Worte trugen nicht gerade zu Robins Beruhigung bei. Sie selbst war bisher noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß er ihr gefährlich werden könnte - warum also sagte er so etwas?
Sie verscheuchte das ungute Gefühl, trat hinter ihm durch die Tür und beeilte sich, die schmale Stiege zum Dachboden hinaufzusteigen. Salim schien im Halbdunkel vor ihr zuerst zu einem Schatten zu verschmelzen und dann ganz zu verschwinden. Selbst das Geräusch seiner Schritte und das Rascheln seines Mantels waren kaum noch zu hören. So ungefähr, dachte sie, mußte es auch gewesen sein, als er sich in Gunthars Lager geschlichen hatte: ein Schatten, der mit der Nacht verschmolz und so gut wie unsichtbar wurde. Sie hatte ihn nicht gefragt, wie es ihm gelungen war, Gernot praktisch aus der Mitte seiner Armee heraus zu entführen und in den Turm zu bringen, aber sie hatte auch das Gefühl, daß sie es gar nicht wirklich wissen wollte; vielleicht, weil die Antwort sie erschreckt hätte.
Auf dem Dachboden war es heller, als sie es in Erinnerung hatte. Vor den Fenstern lagen jetzt keine Läden mehr, und goldenes Sonnenlicht strömte in breiten, staubflirrenden Bahnen herein. Die Luft roch seltsam, aber nicht unangenehm: Eine Mischung aus Staub und dem Geruch des Heus, das im hinteren Drittel des Raumes zum Trocknen ausgebreitet war. Es war so warm, daß ihr fast sofort der Schweiß ausbrach.
»Heute morgen kam ein Bote von Burg Elmstatt«, sagte Salim. »Otto ist entflohen.«
Robin fuhr erschrocken herum. »Wie?«
Salim hob die Schultern. »Wie es aussieht, hatte er Hilfe ... du darfst dreimal raten, von wem.«
»Gernot«, sagte Robin düster.
»Gernot«, antwortete Salim, »hat sich zwanzig Männer genommen, um ihn zu jagen. Ich verwette meine linke Hand, daß er ihn nicht findet.« Er seufzte. »Aber wir sind nicht hier, um über Otto zu reden. Fang!«
Robin griff automatisch zu, als er ausholte, ein Schwert unter dem Mantel hervorzog und es in ihre Richtung warf. Die Bewegung erfolgte fast ohne ihr Zutun, rein instinktiv, und sie fing die Waffe sogar richtig herum auf. Sie bekam sie am Griff zu fassen, statt in die Klinge zu greifen und sich womöglich ein paar Finger abzuschneiden, wie es sich in einer kurzen, aber sehr lebhaften Vision vor ihrem inneren Auge abspielte.
Um ein Haar hätte sie trotzdem das Gleichgewicht verloren. Sie hatte eine schwere Waffe erwartet, wie die Abbés, und ihre Muskeln entsprechend angespannt, aber das Schwert wog so gut wie nichts. Es war aus Holz geschnitzt. Nur ein Kinderspielzeug. Noch während sie verwirrt auf das Holzschwert in ihren Händen herabsah, sagte Salim:
»Deine Reflexe sind gut. Noch besser, als ich erwartet hatte. Und jetzt - wehr dichl«
Wie hingezaubert erschien plötzlich ein zweites, hölzernes Schwert in seiner Hand, und von einem Moment auf den anderen schien er sich tatsächlich in einen Schatten zu verwandeln, der einfach verschwand und im gleichen Augenblick unmittelbar vor ihr wieder auftauchte. Sein Holzschwert traf das Spielzeug, das sie in der Hand hielt, und prellte es ihr aus den Fingern. Robin wich mit einem überraschten Sprung zurück - wie es aussah, gerade noch rechtzeitig, denn Salims Holzschwert zuckte in ihre Richtung und hätte sie zweifellos getroffen, wäre sie stehengeblieben.
Salim ließ seine Waffe sinken und trat wieder zwei Schritte zurück. »Das war wirklich gut«, sagte er. »Du überraschst mich.«
»Gut?« wiederholte Robin verständnislos. »Ich verstehe nicht...«