Auch daraufsagte Robin nichts. Sie konnte es gar nicht. Alles, was sie zustande brachte, war ein angedeutetes Nicken, von dem sie nicht einmal wußte, ob Jan es überhaupt zur Kenntnis nahm. Die ganze Situation war ihr so peinlich, daß sie am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre.
»Und was... was wirst du jetzt tun?« fragte sie schließlich. Sie warf einen raschen, ängstlichen Blick zur Kapelle hin. Wenn Jan seinem Herrn erzählte, wie dreist sie ihn belegen hatte, dann war es um sie geschehen.
Auch Jan sah in die gleiche Richtung, aber er schien an etwas vollkommen anderes zu denken, denn er runzelte kurz die Stirn, sah dann wieder Robin an und schüttelte den Kopf. »Das eine oder andere scheint dir deine Mutter ja doch über Männer verraten zu haben«, sagte er. »Aber keine Angst. Ich habe ein Keuschheitsgelübde abgelegt, und ich halte mich daran.«
Er seufzte, hob beide Hände vor die Augen und drehte sie ein paarmal hin und her, ehe er mit einem schiefen Grinsen, das Robin nicht verstand, hinzufügte: »Na ja. Meistens.«
Er lachte. Robin stimmte aus reiner Höflichkeit in dieses Lachen ein, als aus der Dunkelheit hinter ihr eine Mistgabel geflogen kam, deren rechte Zinke sich in Jans linkes Auge bohrte und seinen Schädel an den Baum nagelte.
Robin erstarrte. Sie begriff weder wirklich, was geschah, noch war sie in der Lage zu schreien, einen klaren Gedanken zu fassen oder sich gar zu bewegen. Jan spuckte röchelnd Blut und Schleim, und noch mehr Blut lief aus seiner ausgestochenen Augenhöhle, seiner Nase und seinen Ohren, und plötzlich begannen seine Glieder wie wild zu zucken, seine Blase und sein Darm entleerten sich gleichzeitig, und endlich fiel auch die Lähmung von Robin ab. Sie war immer noch nicht in der Lage, auch nur den mindesten Laut von sich zu geben, aber sie konnte sich wenigstens wieder bewegen.
Hilflos streckte sie die Arme nach der Mistgabel aus, aber sie wagte es nicht, sie herauszuziehen. Trotz seiner gräßlichen Verletzung lebte Jan noch immer, und obwohl sie ganz genau wußte, wie absurd dieser Gedanke war, hatte sie Angst, ihm Schmerzen zuzufügen.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Sie hörte schwere Schritte, wandte den Blick und sah Olof heranstürzen. Allerdings hatte Robin im allerersten Moment fast Mühe, ihn überhaupt zu erkennen. Er stürmte mit gesenkten Schultern und vorgestrecktem Schädel heran, schnaubend wie ein wütender Stier. Sein Gesicht war hochrot und zu einer Grimasse verzerrt, die Robin mit blankem Entsetzen erfüllte, denn sie begriff mit unerschütterlicher Gewißheit, daß er auch sie töten würde. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Ihre Kehle war noch immer wie zugeschnürt.
Olof stürmte heran, riß die Mistgabel aus Jans Schädel und traf Robin dabei - vermutlich nicht einmal mit Absicht - mit dem Stiefel an der Schläfe. Vielleicht rettete ihr das sogar das Leben, denn Robin fiel wie vom Blitz getroffen zur Seite, so daß Olof sie möglicherweise für tot hielt.
Sie verlor jedoch nicht einmal das Bewußtsein, war für einen kurzen Moment jedoch vollkommen gelähmt, so daß sie nicht einmal mehr atmen konnte. Olof würdigte sie keines Blickes, sondern packte seine Forke dicht hinter der Gabel, drehte sich schwerfällig herum und begann breitbeinig und schnaubend auf die Kapelle zuzustapfen. Er bewegte sich nicht sehr schnell, aber auf eine Art, die es ihm irgendwie unmöglich zu machen schien, auch nur einen Moment innezuhalten.
Endlich konnte Robin wieder atmen, und im gleichen Moment erwachte auch ein gräßlicher, hämmernder Schmerz in ihrem Kopf. Mit einem gedämpften, keuchenden Schrei sog sie die Lungen voller Luft, setzte sich auf und wimmerte, als die plötzliche Bewegung den Schmerz zwischen ihren Schläfen zu nie gekannter Schärfe explodieren ließ. Blut lief über ihr Gesicht, und auch ihre Hände waren voller Blut. Sie wußte nicht einmal, ob es ihr eigenes war, aber sie wagte es auch nicht, in seine Richtung zu sehen, aus der furchtbaren Angst heraus, er könnte noch am Leben sein. Statt dessen hob sie - durch schlechte Erfahrung gewarnt, diesmal sehr vorsichtig - den Kopf noch ein Stückchen höher und hielt nach Olof Ausschau.
Sie hatte Schwierigkeiten zu sehen. Ihr eigenes Blut lief ihr in die Augen, und der Schmerz war so schlimm geworden, daß alles zu verschwimmen schien. Trotzdem sah sie, daß er die Kapelle mittlerweile erreicht hatte, aber Schwierigkeiten zu haben schien, die Tür zu öffnen.
Sie mußte Helle und den Tempelritter warnen. Olof hatte den Verstand verloren. Er würde jeden töten, den er dort drinnen fand, und wahrscheinlich würde er hinterher zurückkommen und sie auch noch umbringen, wenn er feststellte, daß sie doch noch am Leben war. Vielleicht würde er gar das ganze Dorf auslöschen. Zuzutrauen war es ihm in seiner Raserei.
Sorgsam darauf bedacht, nicht in Jans zerstörtes Gesicht zu blicken, streckte sie die Hand aus und griff nach Jans Schwert. Sie wußte nicht, warum. Sie konnte mit dieser Waffe rein gar nichts anfangen und war ohne sie vermutlich weit besser dran als mit ihr. Das einzig Sinnvolle, was sie in diesem Moment überhaupt hätte tun können, wäre sich umzudrehen und davonzulaufen, um im Dorf nach Hilfe zu rufen. Aber das hätte den sicheren Tod für Helle und Bruder Abbé bedeutet.
So sprang sie zwar auf, stürzte aber nicht davon, sondern packte Jans Schwert und rannte ebenfalls auf die Kapelle zu, im gleichen Moment, in dem es Olof offenbar gelungen war, die Tür einzuschlagen und hindurchzustürmen. Nur einen Augenblick später hörte sie Helle drinnen schrill aufschreien, und fast gleichzeitig hörte sie auch das zuerst wütende, dann erschrockene Schreien eines Mannes. Ihre Stimme funktionierte mittlerweile wieder, aber nun war es zu spät, um einen Warnschrei auszustoßen.
Statt dessen beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr und erreichte nach drei oder vier schweren Herzschlägen den Eingang.
Das Grauen, das sich ihr darbot, stand dem draußen keinen Deut nach. Zwar gingen wohl die meisten Verwüstungen, die sie sah, eher auf das Konto der Zeit oder auf das von Bruder Abbé, der in dem kleinen Raum Platz für Helle und sich geschaffen hatte - die drei Bankreihen waren zerschlagen und zu zwei unordentlichen Haufen beiderseits der Tür aufgeschichtet, und der kleine Altar stand schräg, als wollte er jeden Moment zusammenbrechen - aber auch Olof hatte durch sein Wüten zu der Zerstörung beigetragen. Bruder Abbé, der ein überraschend kleiner, fettleibiger Mann war und ganz nebenbei vollkommen nackt, hockte benommen zwischen den Überresten des Betstuhls und betastete mit der linken Hand sein Gesicht. Es war blutüberströmt und begann bereits anzuschwellen. Vermutlich hatte es ebenfalls Bekanntschaft mit Olofs Forkenstiel gemacht. Helle lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch, und Olof stand mit gespreizten Beinen über ihr und stützte sich mit aller Gewalt auf die Mistgabel, deren Zinken er fast zur Gänze in ihren Rücken gerammt hatte. Gerade, als Robin die Tür erreichte, riß er sie heraus und stieß einen Schrei aus, der kaum noch etwas Menschliches hatte. Dann wirbelte er seine Waffe herum und richtete sie gegen Bruder Abbé.
Die Reaktion des Ritters überraschte Robin. Sie hätte geschworen, daß er keine Chance hatte, dem heimtückischen Angriff auszuweichen, nicht in der unglücklichen Lage, in der er sich befand, und noch dazu verletzt. Aber Bruder Abbé wich der Mistgabel mit einer unerwartet geschickten Drehung des Oberkörpers aus, so daß sich die Zinken dicht neben seiner Schulter in die Wand gruben, statt ihn zu durchbohren, und er tat noch ein übriges und streckte blitzschnell den Arm aus, um Olof die Forke zu entreißen.
Seine Kraft reichte nicht dazu. Olof war ein Bulle von einem Mann, und die Raserei, in die er verfallen war, gab ihm noch zusätzliche Kraft. Bruder Abbé knurrte wütend, trat ihm mit dem nackten Fuß vors Schienbein und erschütterte ihn diesmal immerhin so weit, daß er ins Wanken geriet. Der Tempelritter ließ keinen weiteren Angriff folgen, sondern nutzte die Atempause, um auf die Füße zu kommen und rasch zwei, drei Schritte Abstand zwischen sich und den Tobenden zu bringen. Darüber hinaus raffte er noch eine abgebrochene Armlehne an sich, um sich damit zu verteidigen.