Ächzend versuchte er, sich aus seiner knienden Position in die Höhe zu stemmen, aber Robin spürte, wie schwer es ihm fiel, und so sprang sie rasch hinzu und streckte die Hand aus, um ihm zu helfen. Tobias griff mit einem dankbaren Nicken nach ihrem Arm und stützte sich so schwer darauf, daß Robin leicht schwankte, als sie ihn zu seinem Bett führte.
»Ich danke dir, Kind«, seufzte er. »Es ist eine Schande, wenn einem der eigene Körper den Gehorsam verweigert.« Er streckte eine schmale, zitternde Hand nach dem Tisch aus. »Sei so gut und gieß mir einen Becher Wasser ein, Kind.«
Robin ging gehorsam zum Tisch und füllte einen Becher aus dem bauchigen Tonkrug. Als sie ihn hochhob, stieg ihr ein verräterischer Geruch in die Nase. Sie schnüffelte demonstrativ an dem Becher, drehte sich zu Tobias herum und sagte in leicht vorwurfsvollem Ton: »Wasser?«
Tobias grinste. »Es ist auch Wasser darin«, sagte er. »Tatsächlich besteht Bier zum allergrößten Teil aus Wasser.«
»Was sagt Euer Arzt dazu?« wollte Robin wissen.
»Welcher Arzt?« Tobias lachte, aber das hätte er vielleicht besser nicht getan, denn sein Lachen ging unmittelbar in ein gequältes Husten über.
»Es gibt hier keinen Arzt«, fuhr er fort, nachdem er wieder halbwegs zu Atem gekommen war - und einen Schluck Bier getrunken hatte. »Nur Dummköpfe, die mir jahrelang nicht richtig zugesehen haben, worunter ich jetzt leiden muß.« Er trank einen weiteren Schluck Bier. »Außerdem steht nirgendwo in der Bibel, daß ein guter Schluck dann und wann verboten wäre. Im Gegenteiclass="underline" Selbst Jesus Christus hat einen guten Becher Wein zur rechten Zeit nicht verschmäht.«
Robin konnte nicht lesen, und wußte folglich auch nicht, was in der Bibel stand und was nicht. Trotzdem sagte sie mit einem angedeuteten Schmunzeln: »Einen guten Schluck. Aber bestimmt kein ganzes Faß.«
Tobias zog eine Grimasse. »Wozu bist du hierher gekommen, Weib?« fragte er mit gespielter Verärgerung. »Um mich zu verhöhnen oder nur um einem sterbenden alten Mann seine letzte Freude zu vergällen?«
»Ihr sterbt noch lange nicht«, sagte Robin. »Und Ihr seid auch nicht alt.«
»Ich werde sterben«, beharrte Tobias. »Irgendwann. Und ich bin dreiundsechzig und damit dem Sarg ein gutes Stück näher als der Wiege.« Er trank einen weiteren Schluck, und als er den Becher wieder absetzte, war das spöttische Glitzern aus seinem Blick gewichen.
»Du hast Sorgen.«
Es war keine Frage, sondern eine reine Feststellung, bar jeder Wertung, die zeigte, daß sich hinter dem manchmal strengen Auftreten des Mönchs ein sehr empfindsamer Mensch verbarg, der durchaus in der Lage war, auch zwischen den Zeilen zu lesen.
»Gernot«, sagte sie leise. »Ich habe gerade Gernot von Elmstatt getroffen. Draußen im Wald.«
»Was wollte er?«
»Ganz sicher bin ich nicht«, gestand Robin. »Aber ich glaube, er... er hat gedroht, mich zu töten.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Tobias finster. »Aber du mußt dir keine Sorgen machen. Solange du hier bist, kann dir nichts geschehen.«
»Aber ich werde nicht mehr lange hier sein«, sagte Robin. »Weil ihr alle nicht mehr lange hier sein werdet.«
Tobias wirkte für einen Moment überrascht, wenn nicht bestürzt. »Davon weißt du?«
Robin nickte nur.
»Und du hast Angst, daß wir einfach weggehen und dich deinem Schicksal überlassen.« Tobias leerte seinen Becher und streckte ihn auffordernd in ihre Richtung. Robin zögerte kurz, aber dann nahm sie gehorsam den Krug vom Tisch und schenkte nach. Der Krug war ohnehin beinahe leer.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, fuhr Tobias fort. »Glaubst du denn wirklich, daß Abbé dich einfach deinem Schicksal überläßt? Ohne dich wären wir alle hier jetzt tot. Abbé ist sicher nicht der herzensgute Mensch, als den er sich selbst gerne sähe, aber er ist ein Mann von Ehre, und er ist nicht undankbar. Er bezahlt seine Schulden.« Er trank einen - diesmal winzigen - Schluck und fuhr in zugleich beruhigendem wie auch schuldbewußtem Ton fort: »Für dich ist gesorgt, keine Angst.«
Gesorgt... Seltsam - aber gerade dieses Wort machte ihr Sorgen. »Was meint Ihr damit?«
»Du wirst uns begleiten«, sagte Tobias.
»Begleiten?« wiederholte Robin überrascht. »Nach Jerusalem?«
»Natürlich nicht«, antwortete Tobias mit einem verzeihenden Lächeln. »Aber Abbé hat dafür Sorge getragen, daß du gut untergebracht wirst. Es gibt ein Kloster, nicht sehr weit von hier, wo man sich um die Kranken und Waisen kümmert. Dort wirst du Aufnahme finden.«
»Oh«, sagte Robin.
Tobias lächelte. »Nun spring nicht gleich vor Begeisterung auf den Tisch. Du wirst es dort gut haben.«
Ja, das konnte sie sich lebhaft vorstellen - den ganzen Tag in einem grauen Büßergewand herumlaufen und abwechselnd beten, sich kasteien oder Kranke und Siechende pflegen - wenn sie nicht damit beschäftigt war, im Garten zu arbeiten oder die Fußböden zu schrubben.
»Das ist nicht das Leben, das du dir vorgestellt hast«, sagte Tobias, beinahe als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vermutlich war es in diesem Moment nicht besonders schwer. »Das kann ich verstehen. Aber wir müssen uns in unser Schicksal fugen. Es steht uns nicht zu, Gottes Entschlüsse in Zweifel zu ziehen.«
»Gottes Entschlüsse - oder die Bruder Abbés?« fragte Robin impulsiv. Die Worte taten ihr im gleichen Moment schon wieder leid, in dem sie sie ausgesprochen hatte, aber Tobias schien sie ihr nicht übelzunehmen.
»Er führt sich schon manchmal so auf«, sagte er, »aber laß ihn das nicht hören.« Er stand auf und ging mit kleinen vorsichtigen Schritten und stark nach vorne gebeugt zum Tisch, schüttelte aber dann den Kopf, als Robin die Hand ausstreckte, um ihn zu stützen.
»In diesem Fall aber tust du ihm Unrecht«, fuhr er fort, nachdem er den Tisch erreicht und sich gesetzt hatte. »Abbé ist in großer Sorge um dich. Er tut alles, um dich zu beschützen - obwohl ihm deine Anwesenheit hier große Probleme bereitet. Vor allem, seit Bruder Horace hier ist.«
»Der fremde Tempelritter, der heute morgen kam?«, sagte Robin fragend.
»Ich wünschte, er wäre nur das«, seufzte Tobias. Robin sah ihn an und erwartete nun, daß er diese Bemerkung irgendwie erklären würde, aber er tat nichts dergleichen, sondern goß nur mit zitternden Händen den Rest aus dem Bierkrug in seinen Becher, trank aber nicht. »Ich traue ihm nicht«, fuhr er fort. »Er redet mir zuviel mit Jeromé.«
»Das bedeutet, daß Ihr Jeromé nicht traut«, schloß Robin.
Die Andeutung eines flüchtigen Lächelns huschte über Tobias' Lippen. »Du hast einen scharfen Verstand«, sagte er. »Gib nur acht, daß es nicht zu viele merken.«
»Ist es verboten, klug zu sein, wenn man eine Frau ist?« fragte Robin.
»Nein«, antwortete Tobias. »Aber vielleicht klüger, nicht klug zu sein. Oder es zumindest nicht zu zeigen. Männer wie Jeromé fürchten sich insgeheim vor Frauen, die klüger sind als sie ... bist du es denn?«
»Klüger als er?«
»Eine Frau«, antwortete Tobias. Sein Blick wurde forschend. Als Robin ihm nicht antwortete, sondern ihn nur ansah, schloß er die Augen und seufzte tief. »Ja, das habe ich mir fast gedacht. Das erspart mir die Frage, wozu Salim und du euch draußen im Wald trefft. Ich glaube, ich kenne die Antwort jetzt - wie übrigens jeder hier.«