Aber sie mußte einfach wissen, was vorging. Das schreckliche Gefühl eines bevorstehenden Unglückes war wieder da, und es war mit einem Mal stärker denn je. Etwas Furchtbares würde passieren. Noch heute.
Sie versuchte, diesen Gedanken als lächerlich abzutun oder wenigstens so weit niederzukämpfen, daß er sie nicht mehr vor Furcht am ganzen Leib erbeben ließ, aber das eine gelang ihr so wenig wie das andere. Sie öffnete die Tür, trat auf den Hof hinaus und sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch wirklich allein war. Als sie zum Haupthaus hinüber lief, schlug sie einen großen Bogen um die brennende Fackel und achtete auch darauf, nicht in den Lichtschein zu geraten, der aus einigen Fenstern im Untergeschoß fiel. Erst als sie die Tür erreicht hatte und das Gebäude betrat, wurde ihr klar, daß sie sich wie eine Diebin benahm.
Diese Einsicht hinderte sie nicht daran, die Tür so leise wie möglich hinter sich zu schließen und auf Zehenspitzen weiterzuschleichen. Das Haus war still, noch viel stiller, als es ohnehin meistens auch tagsüber war, und auf eine fast unheimliche Art. Dieses Gebäude kam ihr oft wie eine Kapelle vor. Jetzt erschien es ihr wie eine Gruft, kalt und ab weisend, ja, beinahe feindselig, als wolle ihr die Stille zuflüstern, daß sie besser daran täte, nicht hier zu sein. Eine unsinnige Vorstellung, aber sie ließ sich nicht abschütteln. Robin war mehr als erleichtert, als sie endlich wieder den Klang menschlicher Stimmen hörte.
Sie folgte ihnen und war nicht überrascht, sie als die Abbés und Salims zu erkennen. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinauf und wandte sich nach links. Die Stimmen wurden lauter und ihr Klang erregter, und hinter einer nur angelehnten Tür am Ende des Ganges leuchtete das ruhige gelbe Licht einer Kerze.
Robin Schritte wurden immer langsamer, je weiter sie sich der Tür näherte - und vor allem, je deutlicher sie die Stimmen verstand. Abbé und Salim führten kein angenehmes Gespräch.
»Nein!« sagte Abbé gerade. »Das ist mein letztes Wort. Ich will es nicht, und es ist auch unmöglich!«
»Dann habt Ihr es möglich zu machen«, antwortete Salim. »Wie sagt ihr Christen doch so gerne? Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!«
Robin war beinahe entsetzt, als sie hörte, in welchem Ton Salim mit Abbé sprach. Er war niemals besonders respektvoll Abbé gegenüber gewesen, nicht einmal in Gegenwart der anderen Tempelritter, aber sie hatte ihn auch noch niemals so mit ihm reden hören.
Erstaunlicherweise reagierte Bruder Abbé jedoch nicht zornig, sondern ganz im Gegenteil in verzeihendem, beinahe schon väterlichem Ton. »Ich kann dich verstehen, Salim. Auch ich weiß, was es bedeutet, jemanden zu lieben, mein Junge. Aber du quälst dich nur selbst. Und auch sie. Du solltest ihr keine Hoffnungen machen, die du nicht erfüllen kannst.«
Robins Herz begann schneller zu schlagen. Abbé und Salim sprachen eindeutig über sie!
»Ich werde sie erfüllen«, sagte Salim betont. »Und Ihr werdet mir dabei helfen!«
»Wie stellst du dir das vor?« fragte Abbé. Seine Stimme war noch immer ruhig, aber vielleicht nicht mehr ganz so geduldig wie noch gerade. »Schon, daß das Mädchen hier ist, kann mich den Kopf kosten! Wenn es Jeromé gelingt, Horace einzuholen, dann wird es mich den Kopf kosten, verdammt! Du willst sie mitnehmen? Das ist lächerlich! Es wäre nicht einmal möglich, wenn ich es wollte - und ich will es nicht!«
»Unglücklicherweise steht hier nicht zur Debatte, was Ihr wollt«, antwortete Salim höhnisch, und diesmal wurde Abbé zornig.
»Was erdreistest du dich, in einem solchen Ton mit mir zu reden, Sklave!« sagte er scharf.
Salim lachte nur höhnisch. »Ich rede mit Euch, wie ich will«, sagte er. »Spart Euch das für die Gegenwart Eurer Brüder auf, Abbé. Muß ich Euch daran erinnern, wieso ich bei Euch bin und wer mein Vater ist?«
»Nein«, antwortete Abbé. »Aber ich lasse nicht zu, daß unsere Sache in Gefahr gebracht wird, nur weil dich der Hafer sticht. Es ist bereits alles vorbereitet. Für Robin ist gesorgt. Es gibt einen Platz, an dem sie bleiben kann...«
»Wie lange, wenn wir nicht mehr hier sind?« unterbrach ihn Salim. »Eine Woche? Zwei? Gernot war mehr als deutlich mit seinen Worten.«
»Ich werde nicht zulassen...«
»Ich«, fiel ihm Salim scharf ins Wort, »werde nicht zulassen, daß Robin in Gefahr gerät, Punktum! Sie wird mich begleiten, ob es Euch gefällt oder nicht. Sie gehört mir!«
Die Tür flog auf, und Robin fand gerade noch Zeit, mit einem hastigen Schritt in den Schatten zurückzuweichen, bevor Salim herausgestürmt kam. Sein Gesicht war wutverzerrt, und seine rechte Hand lag verkrampft auf dem Schwert, das er an der Seite trug. Er stürmte mit nach vorne gebeugten Schultern so dicht an ihr vorbei, daß sie ihn hätte berühren können, und für einen Moment war sie fest davon überzeugt, daß er sie einfach bemerken mußte. Aber er lief einfach an ihr vorbei und polterte die Treppe hinunter. Robin blieb zutiefst verwirrt zurück.
Sie wußte für den Moment nicht einmal, was sie denken sollte. Salims Benehmen war... unvorstellbar. Wieso hatte Abbé nicht auf der Stelle sein Schwert gezogen und ihn erschlagen? Und: Was hatte er gesagt? Sie gehört mir?
Sie hörte ein Geräusch, drehte sich herum und sah Bruder Abbé, der mit langsamen, müde wirkenden Schritten zur Tür kam. Er sah sie an. Er blickte nicht zufällig in ihre Richtung, sondern sah sie direkt an. Obwohl sie noch immer reglos im tiefsten Schatten stand und eigentlich unsichtbar war, hielt sein Blick den ihren für einen kurzen Moment fest, und sie las eine tiefe, schmerzerfüllte Trauer darin.
Er wußte, daß sie da war, und er wußte wohl auch, daß sie jedes Wort gehört hatte. Vielleicht war es kein Schmerz, den sie in seinen Augen las, sondern Scham.
Aber er sagte nichts, sondern drehte sich nur schweigend herum und schloß die Tür.
KAPITEL 32
Es war einer jener Tage gewesen, die kein Ende nehmen zu wollen schienen. Robin hatte versucht, ihre Arbeit so gut wie möglich zu bewältigen, aber sie war so unkonzentriert und fahrig, daß sie alles falsch machte und es schließlich einfach aufgab und sich in ihre Kammer zurückzog, um die Zeit bis zum Mittagsgebet der frommen Brüder abzuwarten. Niemand nahm Anstoß daran; niemand schien es auch nur zu bemerken. Die Atmosphäre der Anspannung und Nervosität, die Robin schon am frühen Morgen gespürt hatte, war im Laufe des Tages immer stärker geworden und hatte von allen auf dem Hof Besitz ergriffen. Robin war nicht die einzige, der am Vormittag ein Eimer Wasser umgekippt oder ein Armvoll Brennholz aus den Händen geglitten war.
Als es still auf dem Hof wurde, verließ sie die Komturei ganz offen durch das Tor - kaum eine Minute, nachdem Salim gegangen war. Es war ihr mittlerweile gleich, ob die anderen sie dabei beobachteten oder nicht. Ihre Freundschaft zu dem Tuareg war ohnehin kein Geheimnis mehr und war es vermutlich auch nie gewesen.
Salim wirkte ein wenig überrascht, sie so schnell zu sehen, verlor aber kein Wort darüber, sondern begrüßte sie so freudig wie immer - oder versuchte es zumindest: Er zog sie an sich und versuchte, sie zu küssen, aber Robin drehte rasch das Gesicht zur Seite und drückte ihn von sich fort.
Salim blinzelte. »Was ist mit dir?«
»Nichts«, log Robin. »Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles.«
Und sie log ganz offensichtlich auch ziemlich schlecht. Salim zog die linke Augenbraue hoch und brachte es irgendwie fertig, den Kopf zu schütteln, ohne ihn dabei wirklich zu bewegen. Er wirkte ein bißchen verletzt, aber er beließ es dabei und drehte sich schließlich mit einem Ruck herum.