»Bring ihn nicht um!« sagte Robin erschrocken.
»Keine Angst, den Spaß überlasse ich dir«, knurrte Salim. Er wedelte ungeduldig mit der freien Hand. »Schnell! Sieh dich um, ob er allein war oder ob noch mehr von diesen Kerlen in der Gegend sind.«
Robin schluckte trocken. Der Mann erlangte das Bewußtsein allmählich zurück, und als er die Augen öffnete, zog Salim das Messer mit einer raschen Bewegung über sein Gesicht und fügte ihm eine klaffende Schnittwunde zu. Der Mann keuchte vor Schmerz, und Salim schlug ihm den Messergriff gegen die Schläfe. Nicht hart genug, um ihm das Bewußtsein zu rauben, aber doch so fest, daß er benommen zurücksank.
»Großer Gott, was tust du?!« keuchte Robin entsetzt.
»Ich sorge nur dafür, daß er mich ernst nimmt - und meine Fragen beantwortet«, knurrte Salim. »Und jetzt geh endlich! Der Kerl gehört zu Ottos Bande, und wo einer ist, da sind die anderen vielleicht auch nicht weit!«
Robin wandte sich schaudernd um und floh regelrecht vom Seeufer. Nicht einmal so sehr, weil sie tatsächlich Angst hatte, daß sich noch mehr von Ottos Halsabschneidern in der Umgebung herumtrieben, sondern weil sie nicht sehen wollte, was Salim seinem Gefangenen antat.
Aber sie wußte es, und das machte es fast genauso schlimm, als wäre sie dabei geblieben und hätte zugesehen.
Als sie den Waldrand erreichte, hörte sie die Schreie. Zuerst war es beinahe nur ein Keuchen, das sich rasch zu einem gellenden Laut und schließlich zu einem schrillen Kreischen steigerte, das sich kaum noch menschlich anhörte. Robin schlug entsetzt die Hände über die Ohren.
Dann brachen die Schreie abrupt ab; auf eine Weise, die beinahe noch schlimmer war.
Robin blieb noch eine Weile reglos stehen, dann nahm sie die Hände herunter und ging langsam zum Seeufer zurück.
Salim kniete am Wasser und wusch sich die Hände im See, als sie ihn erreichte. Der Mann lag ein kleines Stück neben ihm auf dem Gesicht. Der Sand unter ihm hatte sich dunkel gefärbt. Er war tot.
»Warum hast du das getan?« fragte sie leise.
Salim sah sie nicht einmal an, sondern bückte sich nach seinen Kleidern und begann sich anzuziehen. »Ich habe nichts anderes getan, als das, was er mit dir getan hätte«, sagte er. »Du hättest weglaufen sollen. Ich habe dir gesagt, daß du nicht stark genug bist, um gegen einen Kerl wie ihn zu kämpfen.«
»Du hast ihn gefoltert.«
»Nur ein bißchen.« Salim schlüpfte in seinen Mantel. »Er wollte nicht freiwillig reden, also mußte ich seine Zunge lockern.«
»Hast du wenigstens erfahren, was du wissen wolltest?« fragte Robin bitter.
»Ja«, antwortete Salim. »Aber es gefällt mir nicht. Zieh deine Kleider wieder an. Wir müssen weiter.«
Robin warf noch einen langen Blick auf den reglos daliegenden Leichnam, aber dann bückte sie sich und begann Stiefel und Kettenhemd anzuziehen. Sie beeilte sich, war aber wohl nicht schnell genug, Salims ungeduldigen Blicken nach zu urteilen.
»Interessiert es dich gar nicht, was er mir erzählt hat?« fragte Salim.
»Nein«, antwortete Robin knapp.
»Das sollte es aber«, fuhr Salim unbeeindruckt fort. »Es geht nämlich um dich. Wenigstens zum Teil. Gernot hat ein hübsches Sümmchen auf deinen Kopf ausgesetzt.«
»Ich weiß«, sagte Robin. »Er hat es mir gesagt.«
»Aber anscheinend hast du ihm nicht richtig zugehört. Ich sagte: Gernot. Nicht Otto. Die beiden treffen sich in zwei Stunden, gar nicht weit von hier. Ich weiß nicht, wozu, aber ich wette, sie hecken irgendeine neue Gaunerei aus. Wir müssen herausfinden, was es ist.«
»Wir?«
»Wir«, bestätigte Salim. »Ich würde dich viel lieber zurückschicken, aber das wäre viel zu gefährlich. Es ist besser, du bleibst in meiner Nähe. Keine Angst - ich habe nicht vor, den Helden zu spielen. Ich will nur herausfinden, was sie vorhaben. Das ist alles.«
Nur einen Augenblick später saßen sie wieder in den Sätteln und galoppierten weiter nach Süden.
KAPITEL 34
Salim hatte sie entweder belogen, oder er verstand unter nicht weit von hier etwas vollkommen anderes als sie. Sie ritten Stunde um Stunde nach Süden und hielten nur einmal kurz an, um die Pferde zu tränken. Danach setzten sie ihren Weg fort. Sie mußten schon viele Meilen von der Komturei entfernt sein, aber Salim ritt stur immer weiter, bis sich der Tag neigte und die Sonne ihren Abstieg zum Horizont begann und sich allmählich rot färbte.
Obwohl sie mehr als einen halben Tagesritt hinter sich gebracht hatten, waren sie keiner Menschenseele mehr begegnet. Ein- oder zweimal hatte Robin Rauch in der Ferne gesehen, und einmal hatten sie eine Straße gekreuzt, die dicht vor dem Horizont in einer kleinen Stadt mündete. Ihr fiel dabei auf, daß Salim nicht in direkter Linie nach Süden ritt, sondern sich beinahe in Schlangenlinien bewegte, fast als folge er einer Spur. Aber wenn er es tat, dann vermochte sie sie nicht zu entdecken.
Vielleicht eine halbe Stunde vor Einbruch der Dämmerung hielt Salim plötzlich an und hob hastig die Hand. Auch Robin zügelte ihr Pferd und sah ihn fragend an. »Was ist los?«
Statt zu antworten, deutete der Tuareg mit dem Arm nach vorne. Robin blickte konzentriert in die angegebene Richtung, und nach einem Moment erblickte sie eine Anzahl winziger heller Punkte, von denen sie nicht ganz sicher war, ob sie sich bewegten oder nicht.
»Wer ist das?« fragte sie.
»Bruder Horace, und ein paar andere, fromme Krieger, die er zur Verstärkung mitgebracht hat«, sagte Salim abfällig. »Jedenfalls nehme ich es an. Jeromé wollte ihnen entgegenreiten.«
»Wozu?«
»Um Abbé anzuschwärzen, wozu sonst?« fragte Salim. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich glaube, ich kenne ihr Ziel. Hinter jenem Wäldchen dort liegt ein kleines Gasthaus. Wenn ich einen Hinterhalt planen würde, dann dort.«
»Einen Hinterhalt? Aber wozu denn?«
Salim seufzte. »Manchmal stellst du ziemlich naive Fragen. Gernot will unser aller Tod. Hast du das noch immer nicht begriffen?«
»Doch«, antwortete Robin. »Ich verstehe nur nicht, warum.«
»Ich auch nicht«, sagte Salim. »Jedenfalls nicht ganz. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihm das nächste Mal begegne, verlaß dich darauf. Los! Hoffen wir, daß wir nicht zu spät kommen!«
Sie sprengten los.
Salim nahm nun keine Rücksicht mehr darauf, in Deckung zu bleiben, sondern ließ seine Stute in gerader Linie auf das halbe Dutzend winziger weißer Pünktchen am Horizont zupreschen, so schnell, daß Robin alle Mühe hatte mitzuhalten. Es gefiel ihr nicht. Salim hatte ihr immer wieder eingeschärft, wie wichtig es war, den Vorteil der Überraschung wie eine Trumpfkarte in der Hand zu halten. Jetzt aber gab er leichtfertig diesen Vorteil preis. Ihre donnernden Hufschläge mußten eine halbe Meile weit zu hören sein, und wenn Otto und seine Männer wirklich irgendwo dort vorne auf der Lauer lagen, dann hatten sie sie wahrscheinlich schon längst entdeckt. In ihrem weißen Mantel und auf einem Pferd mit strahlend weißer Schabracke war sie vermutlich so deutlich zu sehen wie eine Fackel in einer Neumondnacht. Es mußte wirklich viel auf dem Spiel stehen, wenn Salim ein so hohes Risiko einging, das auch sie gefährdete. Sie fragte sich nur, was. Daß es ihm um die Rettung von Bruder Horace und seinen frommen Kriegern ging, konnte sie sich kaum vorstellen. Bisher hatte sie nicht den Eindruck gewonnen, daß Salim viel um das Leben eines Tempelritters gab.
Die Reiter verschwanden nach einer Weile aus ihrem Blickfeld, und Salim lenkte Shalima etwas weiter nach links, vermutlich, um den Wald zu umgehen und ihnen den Weg abzuschneiden; oder, wenn möglich, noch vor ihnen das Gasthaus zu erreichen. Robin glaubte jedoch nicht, daß sie rechtzeitig ankommen würden. Der Weg war viel weiter, als sie geglaubt hatte. Obwohl sie ihre Pferde so schnell ausgreifen ließen, wie es nur ging, schien der Wald noch keinen Deut näher gekommen zu sein, und die Sonne hatte den Horizont mittlerweile berührt. Die Schatten wurden länger, und ein erster Hauch von Grau mischte sich in ihr Licht.