Als er seinen Verband fertig angelegt hatte, war auch Robin mit ihrem Bericht zu Ende - sehr viel hatte es ja ohnehin nicht zu erzählen gegeben.
Abbé betrachtete sie kopfschüttelnd. »Jan«, murmelte er und verzog mißbilligend das Gesicht. »Ich bin enttäuscht. Ich hatte große Hoffnungen in ihn gesetzt. Ich hätte niemals geglaubt, daß er so pflichtvergessen sein könnte. Wäre er nicht so ein vielversprechender Knappe gewesen, müßte ich zufrieden sein, daß Gott ihm seine gerechte Strafe für seine Pflichtvergessenheit hat zuteil werden lassen. Acht Jahre Ausbildung! Was für eine Verschwendung!«
Er seufzte, drehte sich um und sah einen kurzen Moment auf Helles leblosen Körper hinab. »Hilf mir, ihr das Kleid anzuziehen!«
Natürlich gehorchte Robin ohne Widerspruch. Mit vereinten Kräften streiften sie der Toten das Kleid über und legten sie dann wieder dorthin, wo Robin sie am Anfang gesehen hatte.
»Wer ist das?« Abbé deutete auf Olof.
»Olof«, antwortete Robin. »Helles Mann.«
»Das habe ich mir fast gedacht«, sagte Abbé finster. »Was für ein ... Tier. Es ist nicht schade um ihn.«
»Er hat Helle oft geschlagen«, sagte Robin unsicher. »Und auch andere. Er war in unserem Dorf nicht sehr beliebt.« Das war zwar die Wahrheit, aber sie kam sich trotzdem schäbig dabei vor, denn sie wollte damit dem Tempelritter im Grunde genommen nur nach dem Munde reden.
»Dieses Mal hat er sich den Falschen ausgesucht.« Abbé rieb sich versonnen den verletzten Arm, während er sich aufmerksam im Raum umsah. Nacheinander hob er einen Leinenbeutel, ein silbernes Tablett mit Brot, Käse und Weintrauben und zwei ebenfalls silberne Trinkgefäße vom Boden auf, die er allesamt in seinem Beutel verstaute. Dasselbe tat er mit zwei der drei Kerzen, die die Kapelle beleuchteten. Endlich verstand Robin auch, was er da tat: Er verwischte sorgfältig alle Spuren seines Hierseins.
Schließlich brannte nur noch eine einzige Kerze. Abbé nahm sie in die Hand, löschte die Flamme aber noch nicht, sondern wandte sich wieder zu Robin um.
»Kannst du reiten?« fragte er.
»Reiten? Nein.«
»Dann wirst du es lernen müssen«, sagte der Tempelritter gleichmütig. »Ich habe wenig Lust, den ganzen Weg zu deinem Dorf neben dir herzuschleichen.«
»Zu meinem... Dorf?« wiederholte Robin verständnislos.
»Natürlich zu deinem Dorf.« Abbé blies die Kerze aus, und nahezu vollkommene Dunkelheit senkte sich über das Innere der Kapelle. »Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen, aber dafür ist unterwegs noch Zeit genug. Geh voraus.«
Robin tastete sich durch die Schwärze zum Ausgang. Draußen blieb sie stehen und wartete auf Abbé.
»Du wartest hier«, befahl er barsch. »Laß dir nicht einfallen wegzulaufen, ich bin sofort zurück.«
Er verschwand hinter der Kapelle, kehrte aber tatsächlich schon nach einigen Augenblicken zurück. Er trug jetzt einen weißen Mantel, auf dem sich das Kreuzsymbol mit den gespaltenen Enden wiederholte, und führte zwei Pferde am Zügel.
»Jan?« fragte er.
Robin deutete stumm in die Richtung, in der der tote Junge lag. Um nichts auf der Welt wollte sie noch einmal dorthin, aber Abbé fragte sie nicht nach dem, was sie wollte, sondern machte eine befehlende, grobe Geste, und Robin gehorchte auch diesmal.
Sie gingen zu dem Baum, unter dem Jans Leichnam lag. Abbé band die Zügel der beiden Pferde an einen tiefhängenden Ast, ging hin und ließ sich neben Jan auf die Knie sinken. Er drehte den Toten auf den Rücken, setzte dazu an, das Kreuzzeichen auf seiner Stirn zu machen, und sog plötzlich und scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Großer Gott!«, keuchte er. »Er lebt ja noch.«
Robin fuhr entsetzt zusammen. »Was?!«
»Er ist noch am Leben«, wiederholte der Tempelritter. Einen Atemzug lang starrte er reglos auf Jan hinab, dann stand er auf, zog sein Schwert und stieß es ihm ins Herz.
Robin wandte sich schaudernd ab. Ihr wurde übel vor Entsetzen, und sie mußte sich mit aller Macht beherrschen, um sich nicht zu übergeben. Sie war fest davon überzeugt gewesen, daß der junge Tempelritter tot war, tot sein mußte! Nun begriff sie, daß sie es sich wohl nur eingeredet hatte. Großer Gott, was hatte sie ihm angetan!
Sie konnte hören, wie Abbé eine Zeitlang hinter ihr herumhantierte, wagte es aber nicht, sich umzudrehen, bis der Templer sie grob an der Schulter packte und zu einem der Pferde stieß. Robin sträubten sich im wahrsten Sinne des Wortes die Haare, als sie sah, daß Abbé Jans Leichnam vor dem Sattel über den Pferderücken gelegt hatte.
»Nein«, murmelte sie. »Bitte nicht!«
Statt auf ihren Protest zu reagieren, ergriff Abbé sie kurzerhand bei den Hüften und hob sie auf das Pferd. Im allerersten Moment schlug nackte Panik in ihr hoch, so heftig, daß sie um ein Haar sofort aus dem Sattel gesprungen und davongerannt wäre. Aber dann begegnete sie Abbés Blick und wagte es nicht.
»Du mußt dich einfach nur festhalten«, sagte Abbé. »Es ist nicht schwer. Um alles andere kümmere ich mich.«
Robin konnte nur nicken. Sie war noch immer wie gelähmt. Auch als Bruder Abbé sich neben ihr mit einer kraftvollen Bewegung in den Sattel schwang, sich zur Seite beugte und nach den Zügeln ihres Reittieres griff, schwieg sie weiter.
Sie legten auch den größten Teil des Weges zum Dorf in bedrückendem Schweigen zurück. Wie Abbé gesagt hatte, war das Reiten gar nicht so schwer - wobei sie ja eigentlich gar nicht wirklich ritt, sondern ihre Schenkel mit aller Kraft gegen den Pferdeleib preßte und mit den Händen den Sattelknauf umklammerte. Alles andere übernahm Bruder Abbé.
Erst, als sie das kleine Wäldchen auf halber Strecke passierten, brach der Tempelritter das Schweigen. »Du hast Jan gemocht?« fragte er.
Robin nickte. Als Abbé nach einem Augenblick nicht reagierte, wurde ihr klar, daß er die Bewegung gar nicht gesehen hatte und sagte: »Ich glaube, ja.«
»Und ihr habt euch gut unterhalten.« Abbé seufzte. »Er hat dir von seinem Leben als Ritter erzählt, seinen Abenteurern und Reisen... das war schon immer sein größter Fehler. Er war ein Aufschneider. Das Gebot der Bescheidenheit hat ihm nicht viel bedeutet.«
»Er hat euch sehr bewundert, Herr«, sagte Robin. Das war gelogen, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, Jan diese kleine Unwahrheit schuldig zu sein.
»Und das ging jetzt schon seit vier Wochen so«, fuhr Abbé fort, ruhig und in nachdenklichem, fast gelassenem Ton. »Vermutlich war ihm einfach nur langweilig. Und so ist es dann passiert... er hat dir von mir erzählt. Und du? Wem hast du von ihm erzählt? Deinen Eltern? Deinen Freunden? Alles natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit.«
»Niemanden!« protestierte Robin. »Ich schwöre, daß ich niemandem...«
»Lüg nicht!« herrschte Bruder Abbé sie an. »Und hüte dich, einen falschen Eid abzulegen!«
Robin schwieg einen Augenblick, dann sagte sie leise: »Nur meiner Mutter. Aber die hat es bestimmt niemandem verraten. Sie hat mir versprochen, es niemandem zu sagen!«
Der Tempelritter lachte rauh. »Oh ja. Außer ihrer besten Freundin vielleicht, natürlich gegen deren Ehrenwort, niemandem etwas zu sagen. Und die wiederum hat es ihrer besten Freundin erzählt, selbstverständlich gegen das heilige Versprechen, kein Sterbenswörtchen davon weiterzugeben.« Er schüttelte den Kopf. »Es wundert mich fast, daß es so lange gedauert hat, bis die Geschichte schließlich bei Olof angekommen ist.«
Robin starrte ihn an. »Ihr meint...«
»Ich meine«, unterbrach sie Bruder Abbé, »daß du dir folgendes für den Rest deines Lebens merken solltest: Wenn du willst, daß etwas möglichst schnell die Runde macht, dann erzähle es einem Weibsbild, am besten unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Wenn du nicht willst, daß es bekannt wird, dann erzähl es ihr erst gar nicht.«