Elias verfügte über so manche Begabungen, aber einen Rohling - oder eben einen Mann von Stand mit äußerst schlechten Manieren - in die Schranken zu weisen, gehörte nicht dazu. Er war hochgewachsen, schlaksig und hatte lange Arme und Beine, die selbst für seine schlanke Statur viel zu dünn wirkten. Damit strahlte er nicht nur eine heitere Gelassenheit, sondern auch die Art jungenhaften Charme aus, der, wie ich oft habe beobachten können, fast unweigerlich das Wohlgefallen der jungen Damen erweckte. Und auch vor gestandenen Männern und Frauen machte diese Ausstrahlung nicht Halt, so dass es Elias, seiner einfachen Herkunft aus den Hochländern Schottlands zum Trotze, gelungen war, zu einem der angesehensten Ärzte Londons aufzusteigen. Er wurde gern gerufen, wenn in einer der gut situierten Familien der Stadt jemand zur Ader gelassen, eine Verwundung versorgt oder eine Reihe Zähne gezogen werden musste. Aber wie es bei vielen Menschen so ist, die andere für sich zu gewinnen wissen, machte Elias sich unweigerlich auch manch einen zum Feind.
Ich legte einen Schritt zu, um zu verhindern, dass Elias ein Leid geschah, aber ich hatte nicht vor, seinem Widersacher mit allzu drohender Gebärde gegenüberzutreten, denn ein Mann, der wie ich seinen Lebensunterhalt mit seinen Fäusten verdient hat, lernt unwillkürlich, dass andere Männer es nicht schätzen, wie schutzbedürftige Kinder behandelt zu werden. Trotzdem hoffte ich, dass meine Präsenz unüberlegte Gewaltanwendung zu verhindern helfen würde.
Da keine Kutschen unterwegs waren, sondern fast nur Fußgänger, hatte ich rasch die Straße überquert und stand gleich darauf an Elias' Seite.
»Noch einmal, Sir«, sagte er und vollführte eine tiefe Verbeugung, bei der ihm die Perücke in die Stirn rutschte, »ich hatte keine Kenntnis von Ihrer Bekanntschaft mit der Lady, und es tut mir außerordentlich leid, Ihnen Verdruss bereitet zu haben.«
»Es wird Ihnen gleich noch mehr leidtun«, polterte der andere, »denn Sie werden von mir Dresche beziehen, wie der Haderlump, der Sie sind, es verdient hat, und ich werde dafür sorgen, dass keine Lady und kein Gentleman in der Stadt noch einmal einen solch infamen Verführer wie Sie ins Haus lässt.«
»Darf ich mich nach dem Anlass des Disputs erkundigen?« Ich räusperte mich und trat einen Schritt vor, wobei ich mich zwischen die beiden hadernden Gentlemen stellte.
»Zum Teufel, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber sollten Sie nichts mit der Sache zu tun haben, verschwinden Sie besser. Sind Sie aber ein Freund dieses Subjekts, halten Sie sich zurück, sonst werden Sie auch gleich meinen Zorn zu spüren bekommen.«
»Es handelt sich um ein schreckliches Missverständnis«, sagte Elias zu mir. »Ein verflixtes Missverständnis. Ich habe eine freundschaftliche Beziehung mit einer liebreizenden - und tugendhaften, wie ich hinzufügen darf, tadellos tugendhaften -jungen Dame anzuknüpfen versucht, die jedoch, wie sich herausstellte, mit jenem Gentleman hier verlobt ist. Darf ich dir Mr. Robert Chance vorstellen? Mr. Chance, darf ich Sie mit Mr. Benjamin Weaver bekannt machen?«
»Verdammt noch mal, Gordon, ich habe kein Interesse daran, Ihren Freunden vorgestellt zu werden.«
»Ach? Aber Ihnen ist vielleicht Mr. Weavers Name geläufig, denn er ist ein gefeierter Boxkämpfer - ausgesprochen versiert in der Kunst, mit seinen Fäusten zuzuschlagen, und man kann ihn bei Bedarf sogar in seine Dienste nehmen.« Ich mochte Skrupel gehabt haben, mich in die Sache einzumischen, aber Elias kannte keine solchen, wenn es darum ging, mich mit hineinzuziehen. »Auf jeden Fall«, fuhr er fort, »sind besagte junge Dame und ich eine freundschaftliche, aber rein tugend-hafte - ich glaube, das hatte ich bereits erwähnt - Liaison eingegangen. Wir haben lediglich philosophische Fragen, die aufgeweckte junge Damen interessieren könnten, erörtert. Man stelle sich nur vor - sie hat durchaus begriffen, worum es in Lockes Thesen zum Empirismus geht ...« Seine Stimme versiegte, da er vermutlich selber gemerkt hatte, wie absurd sein Erklärungsversuch war.
»Und diese philosophischen Erörterungen haben also dazu geführt, dass sie ihren Unterrock ausgezogen hat?«, verlangte Chance zu wissen.
»Wir sind auf eine Frage die Anatomie betreffend gestoßen«, sagte Elias mit kläglicher Stimme.
»Sir«, sagte ich. »Mr. Gordon hat sich bei Ihnen entschuldigt und erklärt, dass er in Unkenntnis der Sachlage gehandelt hat. Er ist ein Mann von untadeligem Rufe ...«
»Untadeligem Rufe als ein Schürzenjäger«, beendete Chance den Satz.
»Er genießt einen untadeligen Ruf als Ehrenmann, und er hätte sich nie auf eine Beziehung zu einer Dame eingelassen, die schon einem anderen versprochen war, wenn er von dieser Verlobung gewusst hätte.«
Dies war vielleicht der größte Unsinn, den ich je von mir gegeben hatte, aber wenn es meinen Freund vor ernsthaften Schwierigkeiten bewahrte, konnte ich derlei durchaus in dem Brustton der Überzeugung vorbringen.
»Und der Feigling weigert sich auch noch, sich zum Duell fordern zu lassen«, beschwerte Chance sich bei mir. »Also bleibt mir keine andere Wahl, als ihn zu verprügeln wie einen räudigen Hund.«
»Duelle habe ich nie geschätzt«, meldete Elias sich wieder zu Wort. »Möglicherweise könnte ich Ihnen meine ärztlichen Dienste als Kompensation anbieten?«
Obwohl Elias mein Freund ist, krümmte ich mich innerlich angesichts dieses Vorschlages. Chance wollte Elias gerade eine passende Antwort erteilen, als ein entferntes Rumpeln unseren Wortwechsel unterbrach. Augenblicklich lauschten wir alle diesem Geräusch, dessen Herkunft uns noch unklar war, wiewohl mehrere Passanten, die sich ein Stück weiter die Great Church Street hinunter auf den Gehsteig retteten, erschrocken aufschrien. Sekunden später sah man auch den ersten von mehreren Einspännern die Straße entlanggerast kommen.
Vereist, wie die Straßen waren - und dazu noch voller Fußgänger, Fahrzeuge und der gelegentlichen Viehherde -, boten sie kaum einen geeigneten Untergrund für ein Wagenrennen, und dennoch waren solche Rennen in jenem Jahr ausgesprochen in Mode, vermutlich, weil es ein besonders eiskalter Winter war und sich die Umstände eines derartigen Wettstreits entsprechend gefährlich gestalteten, was der zügellosen Vergnügungssucht der jungen, vermögenden Müßiggänger nur entgegenkam. Bis dahin hatte ich Kunde vom Tod von zehn unbeteiligten Londoner Bürgern und von einem der Kutscher, der bei diesem Treiben aufs Übelste verletzt worden war, doch da diese Gladiatoren in der Regel die Sprösslinge der besseren Familien unseres Königreiches darstellten, war wenig unternommen worden, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.
Elias und ich drückten uns instinktiv an die Hauswand, als das erste der Fahrzeuge an uns vorbeiraste, und so tat es auch Mr. Chance, gleichwohl in einigem Abstand von uns, damit wir ja nicht glaubten, wir wären mit einem Male Verbündete gegen einen gemeinsamen Widersacher geworden.
Ich konnte nicht anders - ich stieß eine Verwünschung aus angesichts dieses törichten Sports. Auf einer Landstraße mochte ein kleiner Wagen mit nur seinem Kutscher und gezogen von einem einzigen Pferd ein Wettrennen mit einem zweiten solchen veranstalten, ohne dass Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen wurden, aber das änderte nichts daran, dass solche Kutschen einfach nicht für hohe Geschwindigkeiten gebaut waren. Der Kutscher stand ohne ein schützendes Dach über dem Kopf auf seinem Kutschbock, und die geringste Unebenheit konnte ihn ins Verderben stürzen. Als die rasende Phalanx, auf jedem Bock ein rotznäsiger kleiner Lord oder ein anderer hochmütiger Edelknabe, an uns vorüberpreschte, hatte ich Grund zu der bedauernden Annahme, dass diese Burschen vermutlich unbeschadet aus der Hatz hervorgehen würden.