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Er sprach die Wahrheit. Ich hatte keine andere Wahl. Ich glaubte nur, dass ich eine hätte. Ich ahnte, dass ich vor einer schwierigen Aufgabe stand, dass mir aber kein Ausweg blieb. Aber ich ahnte nicht, dass ich in weit größeren Schwierigkeiten steckte, als es bisher den Anschein gehabt hatte.

3

Es war noch Vormittag, als ich Cobbs Haus verließ, aber ich taumelte dennoch durch die Straßen, als hätte ich mich nur mit Mühe nach einem Zechgelage in einer Taverne vom Ale losgerissen oder nur widerwillig das Hurenhaus verlassen, in dem ich mich die ganze Nacht verlustiert hatte. Ich musste mich zusammennehmen, denn ich hatte keine Zeit, mir wie Hiob auf die Brust zu klopfen, um mich über zu Unrecht erlittenes Leid zu beschweren. Ich wusste nicht, warum Cobb einen so elaboraten Plan ersonnen haben sollte, nur um mich zu seinem Schuldner zu machen, aber ich war entschlossen, es darauf beruhen zu lassen, bis ich mich aus seinen Fängen befreit hatte. Sowie ich meine Schuld, oder was er als solche bezeichnete, bei ihm abgelöst hatte und er mit einer Klinge an seiner Kehle vor mir auf dem Boden lag, wollte ich mich nur zu gerne nach seinen Beweggründen erkundigen. Denn würde ich ihn danach fragen, solange er mir noch mit dem Schuldturm drohen konnte, würde ich das Gefühl nicht ertragen können, sein demütiger Bittsteller zu sein.

Die Rolle des Bittstellers stand mir auf jeden Fall bevor, und wenn ich es schon nicht über mich bringen konnte, unter Cobbs Fuchtel zu leben, gab es doch, sagte ich mir, wohlwollendere Kreditoren auf der Welt. Ich gönnte mir daher die Ausgabe für eine Kutsche - ein paar Kupfermünzen, die ich weniger besaß, dürften wohl kaum die Bürde meiner enormen Verbindlichkeiten erschweren - und begab mich in jenen stinkenden, fauligen Teil der Metropole, der da Wapping hieß und in dem mein Onkel Miguel sein Lagerhaus unterhielt.

Die Straße war zu vollgestopft mit Karren und Hausierern und Fischverkäuferinnen, als dass ich unmittelbar vor dem Gebäude aus dem Wagen hätte steigen können, also musste ich die letzten paar Minuten zu Fuß zurücklegen, wobei mir der Modergestank der Brühe aus dem Fluss und die nur wenig erbaulicheren Gerüche der Bettler um mich herum in die Nase drangen. Ein Knirps, der trotz der bitteren Kälte nur mit einem zerrissenen Hemd und sonst nichts weiter bekleidet war, versuchte mir Garnelen anzudrehen, die wohl seit mindestens einer Woche ungenießbar waren und deren Pestilenz mir die Tränen in die Augen trieb. Und doch konnte ich nicht umhin, einen mitleidsvollen Blick auf seine blutigen, mit Dreck aus dem Rinnstein verkrusteten Füße zu werfen, in denen sich der Schmutz schon in die Frostbeulen gefressen hatte, und aus einer plötzlichen Anwandlung der Mildtätigkeit heraus warf ich eine Münze auf seinen Teller, denn ich sagte mir, ein jeder, der so verzweifelt war, dass er noch versuchte, derart verdorbenes Zeug zu verkaufen, müsse unmittelbar vor dem Verhungern stehen. Erst nachdem er sich, einen zufriedenen Glanz in den Augen, verzogen hatte, ging mir auf, dass ich auf einen Trick hereingefallen war. Gab es denn noch einen Einzigen in London, fragte ich mich, der auch wirklich war, was er zu sein vorgab?

Ich erwartete, dass das übliche geschäftige Chaos über mir zusammenschlagen würde, als ich den Speicherschuppen meines Onkels betrat. Er verdiente sich mit Im- und Exporthandel ein recht erkleckliches Einkommen, wobei er sich seine weit verzweigten Verbindungen zu den über die ganze Welt verstreuten Kommunen portugiesischer Juden zu Nutze machte. Er trieb Handel mit Ambra, Sirup, Dörrfisch und Datteln, Butter aus Holland und Heringen aus der Nordsee, aber sein Hauptgeschäft bestand in dem Handel mit spanischen und portugiesischen Weinen und britischen Wollprodukten. Diesen Warenaustausch eines nahen Verwandten konnte ich nur begrüßen, denn sooft ich meinen Onkel besuchte, durfte ich darauf hoffen, mit einer guten Flasche Port oder Schaumwein als Geschenk heimzukehren.

Ich war es gewohnt, beim Betreten seines Lagerhauses von unzähligen Männern angerempelt zu werden, die aus unerfindlichen Gründen Kisten und Kästen und Fässer und Tonnen von einer Stelle an die andere schleppten und dabei so völlig im Sinn und Zweck ihrer Arbeit aufgingen wie die Myriaden umhereilender Bewohner eines Ameisenhaufens. Ich erwartete, dass der ganze Boden mit irgendwelchen Gefäßen vollgestellt sein würde, denen der süße Duft getrockneter Früchte entströmte, der sich mit dem Wohlgeruch ausgelaufenen Weines vermischte. Aber heute waren nur wenige Arbeiter zugegen, und die Luft in dem Gebäude war feucht und schwer; es roch nach Wollsachen und nach noch etwas anderem, erheblich Durch-dingenderem. Und es war kalt in dem beinahe leeren Schuppen.

In der Hoffnung, meinen Onkel zu entdecken, blickte ich mich um, doch statt seiner trat sein langjähriger Kompagnon, Joseph Delgado, auf mich zu. Wie die Mitglieder meiner Familie war auch Joseph jüdischer Abstammung und portugiesischer Herkunft, jedoch in Amsterdam geboren und als Kind nach England gekommen. In den Augen der meisten Menschen sah er allerdings aus wie ein ganz normaler Engländer, denn er kleidete sich wie ein Mann aus Handelskreisen und trug das Kinn stets rasiert. Er war ein braver Kerl, den ich schon seit Kindertagen kannte und der stets ein nettes Wort für mich gehabt hatte.

»Ah, der junge Master Benjamin«, begrüßte er mich. Es hatte mich stets amüsiert, wie er mich ansprach, als wäre ich noch ein Kind, aber ich begriff durchaus, warum er das tat. Es gefiel ihm nicht, mich bei meinem angenommenen Namen Weaver zu nennen, denn dieser stammte aus der Zeit, als ich noch als Junge aus meines Vaters Haus geflohen war und erschien dem guten Joseph als Zeichen meiner Aufsässigkeit. Er konnte nicht verstehen, warum ich mich weigerte, zu dem Namen meiner Ahnen, Lienzo, zurückzukehren, also weigerte er sich seinerseits, mich bei einem dieser beiden Namen zu nennen. Da mein Vater nun längst tot war und ich auf gutem Fuße mit meinem Onkel und meiner Tante stand, hatte ich eigentlich gar nichts mehr gegen meinen Familiennamen, aber jedermann kannte mich als Weaver, und ich verdiente mir mein Auskommen kraft des Rufes, der mir vorauseilte. Also gab es kein Zurück.

Ich ergriff Josephs ausgestreckte Hand. »Es ist hier ziemlich still geworden, wie ich sehe.«

»Oh ja«, erwiderte er ernst. »Ziemlich still, in der Tat. Still wie auf einem Friedhof.«

Ich musterte sein in die Jahre gekommenes Antlitz und gewahrte die düstere Stimmung, die ihn bedrückte. Die Falten und Furchen seines Gesichts erschienen mir nun wie tiefe Schluchten. »Gibt es Ärger?«

»Ich würde sagen, das ist der Grund, aus dem Ihr Onkel Sie hat kommen lassen.«

»Mein Onkel hat mich nicht zu sich bestellt. Ich bin in eigenen Angelegenheiten hier.« Da erst ging mir die unheilschwangere Bedeutung auf, die seine Worte haben mochten. »Geht es ihm nicht gut?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Er macht sich nur seine üblichen Sorgen. Die Dinge stehen ja auch schlecht genug. Ich wünschte nur, er würde mich - oder einen anderen, das ist mir gleich - mehr in die Geschäfte einweihen. Ich fürchte, die Bürde seiner Verantwortung schlägt ihm auf die Gesundheit.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe auch schon mit ihm darüber gesprochen.«

»Es liegt daran, dass er keinen Sohn hat«, sagte Joseph. »Wenn doch nur Sie, Sir, bereit wären ...«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich möchte, dass mein Onkel wieder gesund wird und nicht, dass er daran zugrunde geht, mit ansehen zu müssen, wie ich sein Geschäft in Grund und Boden wirtschafte. Ich habe vom Im- und Export keine Ahnung, und ich habe auch kein Verlangen, etwas darüber zu lernen, solange jeder Fehler, den ich begehe, ihm Schaden zufügen könnte.«

»Aber Sie müssen mit ihm sprechen. Sie müssen ihn inständig bitten, sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Er ist in seinem Kontor. Gehen Sie nur zu ihm, mein Junge, gehen Sie.«