Sie waren bestimmt froh, dass der Schneesturm aufgehört hatte, dachte sie, denn sie konnten schließlich nicht ahnen, dass sie dadurch ihre Schuld in die Schneedecke schrieben, wo die zufällig vorbeikommende Adelia Rachel Ortese Aguilar, die Medica der berühmten Medizinschule von Salerno, Sachverständige des Todes und der Todesursachen, sie enträtseln würde.
Und das würde ihnen noch leidtun.
Beim Warten war ihnen noch kälter geworden. Sie hatten mit den Füßen gestampft, um sich aufzuwärmen. Im Geist wartete Adelia mit ihnen, biss in imaginären Käse. Vielleicht hatten sie dem Klang der Komplet gelauscht, die von den Nonnen gesungen wurde, ehe die sich für die drei Stunden vor der Vigil zur Ruhe begaben. Ansonsten war es wohl totenstill gewesen, höchstens der Ruf einer Eule oder der heisere Schrei einer Füchsin hatte die Ruhe unterbrochen.
Da kommt er, der Reiter. Die Straße herauf, die vom Fluss zum Kloster führt, das Hufgeklapper seines Pferdes wird vom Schnee gedämpft, ist aber in der stillen Nacht deutlich zu hören.
Er nähert sich dem Tor, wird langsamer – will er hinein? Doch Schurke Nummer eins ist vor ihn getreten, mit gespannter Armbrust. Sieht der Reiter ihn? Ruft er etwas? Erkennt er den Mann? Wahrscheinlich nicht; der Schatten ist hier sehr dunkel. So oder so, der Bolzen ist abgeschossen und steckt schon tief in der Brust.
Das Pferd bäumt sich auf, der Reiter fällt nach hinten und stürzt zu Boden, wobei die Bolzenfedern zerbrechen. Schurke Nummer zwei packt die Zügel, führt das verstörte Pferd zu den Bäumen und bindet es dort an.
»Er liegt im Schnee und stirbt, das Geschoss einer Armbrust ist fast immer tödlich, ganz gleich, wo es trifft«, sagte Adelia, »aber sie gehen auf Nummer sicher. Einer von ihnen – ein Mann mit großen Händen – erwürgt ihn, während er am Boden liegt.«
»Herr sei uns gnädig«, sagte der Bischof.
»Ja, aber nun kommt das Interessante«, sagte Adelia, als wäre alles andere ganz alltäglich gewesen. »Jetzt erst schleifen sie ihn in die Mitte der Brücke. Seht Ihr? Seine Stiefelspitzen haben Furchen in den Schnee gezogen. Sie legen seine Kappe neben ihn – meine Güte, wie kann man so dumm sein! Haben die geglaubt, ein vom Pferd Gefallener liegt so kerzengerade da? Die Beine geschlossen? Gewänder glattgestrichen? Das war Euch aufgefallen, oder? Und dann, dann, holen sie sein Pferd auf die Brücke und schneiden ihm die Sehne durch.«
»Sie bringen ihn nicht in den Wald«, betonte Mansur. »Auch das Tier nicht. Hätten sie das getan, wären Pferd und Reiter frühestens im Frühling gefunden worden, und dann hätte keiner mehr sehen können, was mit ihnen passiert ist. Nein, stattdessen legen sie ihn so hin, dass der Erstbeste, der am Morgen über die Brücke kommt, ihn finden und dann Krawall schlagen wird.«
»Wodurch den Mördern weniger Zeit für ihre Flucht bleibt.« Der Bischof war nachdenklich. »Ich verstehe. Das ist … exzentrisch.«
»Das hier ist exzentrisch«, sagte Adelia. Sie waren wieder zu der Leiche gegangen.
Am Anfang der Brücke, wo die anderen warteten, hatte jemand in einem alten Fass ein Feuer angezündet. Gesichter, die im Schein der Flammen gespenstisch leuchteten, blickten hoffnungsvoll in ihre Richtung. »Braucht ihr noch lange?«, rief Gyltha. »Die Kleine hat Hunger, und wir kriegen schon Frostbeulen.«
Adelia achtete nicht auf sie. Sie spürte die Kälte noch immer nicht. »Zwei Männer«, sagte sie. »Und ihren Schuhen nach zu urteilen, sind sie arm. Zwei Männer töten unseren Reiter. Sie nehmen das Geld aus seiner Börse, aber sie lassen die Börse hier. Ein gutes Stück mit seinem Familienwappen darauf. Sie lassen ihm seine Stiefel, den Mantel, die Silberschnalle, das schöne Pferd. Welcher Räuber macht so was?«
»Vielleicht sind sie gestört worden«, sagte Rowley.
»Von wem denn?« Adelia dachte konzentriert nach. »Von uns jedenfalls nicht. Wir waren noch weit weg. Sie hatten genug Zeit, dieser armen Seele alles zu rauben, was sie besaß. Aber sie tun’s nicht. Wieso nicht, Rowley?«
Der Bischof überlegte. »Sie wollten, dass er gefunden wird.«
Adelia nickte. »Das war ihnen wichtig.«
»Sie wollten, dass er identifiziert werden kann.«
Adelia atmete tief erleichtert aus. »Genau. Es soll bekannt werden, wer er ist und dass er tot ist.«
»Verstehe«, sagte Rowley bedächtig. »Daher auch der Vorschlag, dass wir seinen Leichnam verstecken. Gefällt mir trotzdem nicht.«
»Aber das wird sie zurücklocken, Rowley«, sagte Adelia und berührte ihn zum ersten Mal, indem sie ihn am Ärmel zog. »Sie haben sich alle Mühe gegeben, dass die Welt vom Tod dieses armen jungen Mannes erfährt. Sie werden zurückkommen und nachforschen, warum das nicht geschehen ist. Wir können auf sie warten.«
Mansur nickte. »Irgendein Teufel will aus diesem Mord seinen Vorteil ziehen, möge Allah ihn niederschmettern.«
Wieder zupfte Adelia am Ärmel des Bischofs. »Aber nicht, wenn der Junge offenbar nur weg ist, einfach verschwunden.«
Rowley war skeptisch. »Wahrscheinlich hat er Eltern, die sich Sorgen um ihn machen.«
»Wenn ja, dann werden sie sich wünschen, dass seine Mörder gefunden werden.«
»Er sollte würdevoll bestattet werden.«
»Noch nicht.«
Der Bischof entzog seinen Arm ihrem Griff und entfernte sich von ihr. Adelia beobachtete, wie er an das Brückengeländer trat, sich darüberbeugte und in das tosende Wasser blickte, das weiß im Mondlicht leuchtete.
Er hasst es, wenn ich das tue, dachte sie. Er war bereit, die Frau zu lieben, aber nicht die Ärztin. Und doch hatte er die Ärztin mitgenommen, und jetzt muss er die Konsequenzen tragen. Ich habe eine Pflicht gegenüber diesem Toten, und ich werde sie nicht verleugnen.
Jetzt war ihr kalt.
»Also gut.« Er wandte sich um. »Euer Glück, dass Godstow ein Eishaus besitzt. Dafür ist es berühmt.«
Während man den Toten in seinen Mantel hüllte und seine Habseligkeiten zusammensuchte, ging Adelia ihr Kind stillen.
Der Bischof von St. Albans versammelte seine Männer um sich und erklärte ihnen, was Dr. Mansur aus den Spuren im Schnee geschlossen hatte.
»Mit der Gnade Gottes hoffen wir, diese Mörder zu überführen. Bis dahin wird keiner von euch, ich wiederhole, keiner, ein Wort darüber verlieren, was wir heute Nacht gesehen haben. Wir werden diesen Leichnam so würdevoll wie möglich, aber in einem heimlichen Versteck aufbewahren, um abzuwarten, wer auftaucht und Fragen nach dem Toten stellt – und wenn wir die Mörder entlarvt haben, dann möge sich Gott ihrer Seelen erbarmen, denn wir werden es nicht tun.«
Das war klug. Rowley hatte in Outremer als Kreuzritter gekämpft und dort gelernt, dass Männer williger gehorchten, wenn sie wussten, was ihr Befehlshaber vorhatte, und nicht bloß unverständliche Befehle erhielten.
Er erntete zustimmendes Brummen bei den Umstehenden, von denen der Bote besonders eifrig klang. Er und seinesgleichen waren viel unterwegs, und sie sahen in dem Reiter auf der Brücke einen von ihnen, der den Verbrechern zum Opfer gefallen war, die die Straßen unsicher machten. Sie waren zwar zu spät gekommen um dem Reisenden als barmherzige Samariter das Leben zu retten, aber sie konnten zumindest seine Mörder überführen.
Nur Pater Patons gerunzelte Stirn verriet, dass er schon ausrechnete, wie viel der Leichnam die Kirchenkasse kosten würde.
Die Männer nahmen die Mützen ab und trugen den Toten zum Wagen. Dann brachten sie ihn, die Pferde am Zügel führend, über die Brücke ins Kloster Godstow.
Kapitel vier
Die Abtei Godstow mit ihren umliegenden Waldungen und Feldern war im Grunde eine große Insel, die durch die Windungen der Themse und ihrer Zuflüsse entstanden war. Der Torwächter, der den Reisenden öffnete, war zwar ein Mann, ebenso wie der Reitbursche und der Stallknecht, die ihre Pferde versorgten, doch auf der Insel herrschten die Frauen.