Hätte man sie gefragt, so hätten die vierundzwanzig Nonnen und ihre weiblichen Dauergäste beteuert, dass der Herr allein ihnen befohlen habe, der Welt den Rücken zu kehren, doch ihre offensichtliche Zufriedenheit ließ vermuten, dass der Wunsch des Herrn exakt dem ihren entsprach. Manche waren begüterte Witwen, die den Ruf des Herrn am Grab ihres Mannes vernommen und sich prompt nach Godstow begeben hatten, ehe sie erneut verheiratet werden konnten. Andere waren Jungfrauen, die sich nach einem kurzen Blick auf den für sie ausgewählten Gatten ganz plötzlich und unwiderstehlich zur Keuschheit berufen gefühlt und ihre Mitgift statt in die Ehe lieber mit ins Kloster genommen hatten. Hier konnten sie ein stattliches und stetig wachsendes Lehen effizient und großzügig verwalten – und das alles ohne männliche Einmischung.
Die einzigen Männer über ihnen waren St. Benedikt, dessen Regeln sie befolgten und der seit sechshundertfünfzig Jahren tot war, der Papst, der weit weg war, der Erzbischof von Canterbury, für den die meiste Zeit dasselbe galt, und ein neugieriger Archidiakon, der ihnen aber nichts anhaben konnte, da sie ihre Bücher peinlich genau führten und ihr Verhalten stets untadelig war.
Ach so, ja, und der Bischof von St. Albans.
So reich, wie Godstow war, besaß es gleich zwei Kirchen. Die eine schmiegte sich unauffällig an die Westmauer der Abtei, war klein und war die Privatkapelle der Nonnen. Die andere, deutlich größere, stand am östlichen Rand nahe der Straße und diente den Menschen aus den umliegenden Dörfern als Gotteshaus.
Die Abtei selbst war praktisch ein kleines Dorf, in dem die frommen Schwestern ihre eigenen Bereiche hatten, und dorthin wurden die Reisenden nun von dem Torwächter geführt. Eine Magd, die eine Schultertrage schleppte, kreischte bei ihrem Anblick auf und machte dann einen Knicks, wobei Milch aus den Eimern schwappte. Die Laterne des Wächters beschien Durchgänge, Höfe und die gemeißelten Säulen eines Kreuzgangs, der zum Schlafsaal führte, wo sich an den nacheinander aufgehenden Fensterläden weißumhüllte Köpfe zeigten, wie blasse Mohnblumen, und aufgeregte Stimmen, »Der Bischof, der Bischof«, tuschelten.
Rowley Picot, kräftig, energisch, unbeirrbar und lärmend männlich, war ein Hahn, der in einen friedlichen Stall voller Hennen einbrach, die bis dahin bestens ohne ihn ausgekommen waren.
Die Priorin, die noch dabei war, ihren Schleier festzustecken, kam ihnen entgegen und bat sie, im Kapitelsaal auf die Äbtissin zu warten. Derweil standen Erfrischungen bereit. Hatten die Ladys irgendwelche Wünsche? Und der Säugling, so ein prächtiger kleiner Kerl, was konnte man für ihn tun?
Die Schönheit des Kapitelsaales beruhte auf seinen schmucklosen großen Holzstreben und Bögen. Kerzen erhellten die frischen Binsen auf dem Boden und spiegelten sich auf einem glänzenden langen Tisch und den Stühlen. Neben dem Geruch der Apfelholzscheite im Kohlenbecken lag ein Duft von Heiligkeit und Bienenwachs in der Luft – und vermischte sich dank Wächter jetzt mit dem Gestank eines übelriechenden Hundes.
Rowley tigerte ungeduldig und gereizt durch den Raum, doch Adelia stillte die kleine Allie zum ersten Mal seit Beginn der Reise mit der Ruhe, die das Kind verdiente. Da sie die Abtei mit Rosamund Clifford in Verbindung brachte, hatte sie befürchtet, ein verlottertes Kloster mit schlampigen Nonnen vorzufinden, die ihrem Stand keine Ehre machten. Noch immer hatte sie schlimme Erinnerungen an das Kloster St. Radegund in Cambridge, die einzige andere Schwesternschaft, die sie bislang in England gesehen hatte – ein bedrückender Ort, an dem letztendlich die Komplizin eines Kindermörders entlarvt worden war.
Hier in Godstow jedoch kündete die Atmosphäre von Geborgenheit, Ordnung, Disziplin und davon, dass alles so war, wie es sein sollte.
Sie döste vor sich hin, eingelullt von Pater Patons einschläferndem Gemurmel, der in seinem Schiefertafelbuch Berechnungen anstellte. »Für Käse und Ale auf der Reise … für Pferdefutter …«
Ein sachter Stoß von Gyltha brachte sie auf die Beine. Eine kleine, sehr alte Nonne, die sich auf einen Stock mit Elfenbeingriff stützte, war hereingekommen. Rowley streckte ihr die Hand hin, die Nonne beugte sich ächzend vor, um den Bischofsring an seinem Finger zu küssen. Alle verneigten sich.
Die Äbtissin nahm am Kopfende des Tisches Platz, lehnte den Gehstock behutsam an ihren Stuhl, faltete die Hände und hörte zu.
Innerhalb weniger Minuten wurde Adelia klar, dass ein Gutteil von Godstows Wohl und Segen dieser kleinen Frau zu verdanken war. Mutter Edyve besaß die distanzierte Ruhe älterer Menschen, die alles schon erlebt hatten und es jetzt zum zweiten Mal kommen sahen. Dieser junge Bischof, ein Grünschnabel im Vergleich zu ihr, konnte sie nicht aus der Fassung bringen, obwohl er in seinem Gefolge einen Sarazenen, zwei Frauen, einen Säugling sowie einen eher unappetitlichen Hund mitbrachte und ihr erzählte, er habe vor ihren Toren einen Ermordeten gefunden.
Selbst der Wunsch des Bischofs, die Leiche in ihrem Eishaus zu verstecken, wurde seelenruhig aufgenommen. »Ihr hofft, auf diese Weise den Mörder zu finden?«, fragte sie.
»Die Mörder, Äbtissin«, korrigierte der Bischof ein wenig zu ungeduldig. Erneut erklärte er ihr die Beweise, die von Doktor Mansur und seiner Assistentin gefunden worden waren.
Adelia dachte, dass Mutter Edyve wahrscheinlich alles schon beim ersten Mal begriffen hatte. Sie wollte nur noch etwas mehr Zeit zum Nachdenken gewinnen. Die Augen mit den faltigen Lidern, die in einem Gesicht wie aus runzeligem Kalbsleder ruhten, schlossen sich, während sie lauschte. Ihre blaugeäderten Hände spiegelten sich in der polierten Tischplatte.
Rowley kam zum Ende: »Wie wir vermuten, legen es die Täter darauf an, dass sich der Tod und der Name des jungen Mannes herumsprechen werden. Wenn dies nicht geschieht, kommen sie möglicherweise zurück, um Nachforschungen anzustellen.«
»Also eine Falle.« Eine sachliche Feststellung.
»Eine notwendige Falle, um der Gerechtigkeit willen«, beteuerte Rowley. »Und nur Ihr dürft davon wissen, Äbtissin.«
Er verlangt viel von ihr, dachte Adelia. Einen Toten nicht zu bestatten, sondern ihn unbeweint zu verstecken, verstößt ganz sicher gegen das Gesetz und die christliche Ordnung.
Doch nach dem, was Rowley ihr erzählt hatte, war es dieser alten Frau gelungen, ihr Kloster und ihre Nonnen unbeschadet durch einen dreizehnjährigen Bürgerkrieg zu bringen, der zu einem großen Teil genau hier in der Gegend getobt hatte – eine Leistung, die den Verdacht nahelegte, dass dabei so manche menschliche und göttliche Vorschrift umschifft worden war.
Mutter Edyve öffnete die Augen. »Eins müsst Ihr wissen, Mylord: Die Brücke gehört uns. Unserem Kloster obliegt es, sie instand zu halten und ihren Frieden zu wahren und demzufolge auch diejenigen zu ergreifen, die darauf einen Mord verüben.«
»Dann seid Ihr also einverstanden?« Rowley war verblüfft. Er hatte Widerstand erwartet.
»Allerdings«, sagte die Äbtissin gelassen, als hätte sie ihn gar nicht gehört, »werdet Ihr die Hilfe meiner Tochter Priorin benötigen.« Unter ihrem Skapulier holte Mutter Edyve die größte Schlüsselkette hervor, die Adelia je gesehen hatte. Es war ein Wunder, dass die alte Frau von dem Gewicht nicht zu Boden gezogen wurde. Zwischen den wuchtigen Schlüsseln, die daran befestigt waren, hing eine kleine Glocke. Sie läutete sie.
Die Priorin, die sie zuvor begrüßt hatte, kam herein. »Ja, Mutter?«
Jetzt, wo sie die beiden zusammen sah, bemerkte Adelia, dass Schwester Havis das gleiche flache Gesicht und die gleiche, wenn auch nicht ganz so runzelige Lederhaut hatte wie die Äbtissin. »Tochter Priorin« war also nicht nur ein frommer Titel. Edyve hatte ihr Kind mit nach Godstow gebracht, als sie Nonne wurde.