»Unser Bischof hat eine Lieferung für unser Eishaus mitgebracht, Schwester Havis. Sie soll während der Laudes unbemerkt dorthin geschafft werden.« Ein Schlüssel wurde von dem großen Eisenring gelöst und überreicht. »Bis auf weiteres wird niemand sonst davon unterrichtet.«
»Ja, Mutter.« Schwester Havis verneigte sich zuerst vor ihrem Bischof, dann vor ihrer Mutter und ging. Keine Fragen. Godstows Eishaus, so dachte Adelia, hatte im Laufe der Zeit gewiss nicht nur Rinderhälften beherbergt. Schätze? Flüchtlinge? Vielleicht beides, denn immerhin lag es zwischen der Stadt Wallingford, die auf Königin Matildas Seite gestanden hatte, und der Burg Oxford, über der König Stephens Flagge geweht hatte.
Allie begann zu strampeln, und Gyltha, die sie im Arm hielt, blickte zuerst fragend Adelia an und dann auf den Boden.
Adelia nickte, der Boden war sauber. Allie wurde zum Krabbeln abgesetzt. Allerdings lehnte sie diese Fortbewegungsart ab und schob sich lieber auf dem Allerwertesten durch den Raum. Müde legte Wächter, der Hund, sich so hin, dass sie ihn an den Ohren ziehen konnte.
Rowley dankte der Äbtissin nicht einmal für ihre Hilfsbereitschaft, sondern kam sogleich zu der Angelegenheit, die ihm auf der Seele brannte. »Und nun, Madam, wie steht’s mit Rosamund Clifford?«
»Ja, Lady Rosamund.« Sie klang nach wie vor gelassen, doch ihre Hände spannten sich leicht an. »Man sagt, die Königin soll sie vergiftet haben.«
»Das habe ich befürchtet.«
»Und ich befürchte, es könnte wieder Krieg geben.«
Stille trat ein. Die Äbtissin und der Bischof waren sich jetzt ohne Worte einig, als hätten sie gemeinsam ein schlimmes Geheimnis. Erneut drängten sich galoppierende Reiter in die Erinnerung derjenigen, die den Bürgerkrieg erlebt hatten, und Adelia spürte ihre Angst so deutlich, dass sie am liebsten ihr Kind hochgenommen hätte. Stattdessen passte sie genau auf, dass Allie dem Kohlenbecken nicht zu nahe kam.
»Ist ihr Leichnam eingetroffen?«, fragte Rowley unvermittelt.
»Nein.«
»Ich dachte, sie soll hier bestattet werden.« Er klang vorwurfsvoll, als sei es die Schuld der Äbtissin. Wo doch jeder andere Bischof, dachte Adelia, mit Wohlwollen auf ein Kloster geblickt hätte, das sich weigerte, eine Frau zu bestatten, die wegen ihrer losen Sitten berüchtigt war.
Mutter Edyve blickte seitlich an ihrem Stuhl hinunter. Allie versuchte gerade, sich an einem seiner Beine hochzuziehen. Adelia wollte sie dort wegholen, doch die Äbtissin hob mahnend einen Finger, nahm dann, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, die kleine Glocke von der Schlüsselkette und reichte sie nach unten.
Du kennst dich mit Kindern aus, dachte Adelia beruhigt.
»Lady Rosamund hat unserem Kloster so manche Freundlichkeit angedeihen lassen.« Mutter Edyves Stimme klang hell wie die eines fernen Vogels. »Wir schulden ihrem Leichnam die Bestattung und ihrer Seele einen Gottesdienst. Die Vorkehrungen sind getroffen worden, doch ihre Haushälterin Dakers weigert sich, uns die Tote zu überlassen.«
»Wieso denn?«
»Das kann ich nicht sagen, aber ihre Einwilligung ist unerlässlich, fürchte ich.«
»Im Namen des Allmächtigen, wieso?«
Irgendetwas, vielleicht sogar Erheiterung, blitzte ganz kurz im reglosen Gesicht der Äbtissin auf. Vom Boden neben ihrem Stuhl ertönte ein Klingeln, als Allie ihr neues Spielzeug untersuchte. »Mylord, soweit ich weiß, habt Ihr den Wormhold Tower während Lady Rosamunds Erkrankung besucht?«
»Das wisst Ihr doch. Eure Priorin … Schwester Havis hat mich aus Oxford hergeholt.«
»Und Ihr wurdet beide durch das Labyrinth geführt, das den Turm umgibt?«
»Irgend so ein verrücktes Weib hat uns am Eingang erwartet, ja.« Rowleys Finger trommelten auf den Tisch. Er hatte sich noch nicht gesetzt, seit sie den Raum betreten hatten.
»Das war Dakers.« Wieder diese kaum wahrnehmbare Erheiterung, wie ein Windhauch über einem Teich. »Wie ich höre, lässt sie seit dem Tod ihrer Herrin niemanden mehr herein. Sie hat sie vergöttert. Mylord, ich fürchte, wenn sie Euch nicht durch das Labyrinth führt, werdet Ihr nicht zum Turm gelangen.«
»Ich werde dorthin gelangen. Bei Gott, das werde ich. Solange ich hier Bischof bin, bleibt kein Toter unbeerdigt …« Er stockte und lachte dann. Er hatte gerade selbst einen mit ins Kloster gebracht.
Das ist seine große Stärke, dachte Adelia, während ihr warm ums Herz wurde und sie ihn anlächelte. Er hat einen Blick für die Absurdität der Dinge. Sie sah zu, wie er sich bei der Äbtissin für sein Benehmen entschuldigte und für ihr Entgegenkommen dankte – bis sie merkte, dass die blassen alten Augen der Nonne sich von ihm abgewandt hatten und jetzt sie betrachteten, wie sie ihn betrachtete.
Die Äbtissin kam wieder zur Sache. »Dakers’ Bindung an ihre Herrin war …«, sie suchte nach Worten, »… furchterregend. Die unglückselige Magd, die die verhängnisvollen Pilze aus dem Wald mitgebracht hat, ist vor lauter Angst um ihr Leben aus dem Turm geflohen und hat bei uns Zuflucht gesucht.«
»Sie ist hier? Gut. Ich will ihr einige Fragen stellen.« Er verbesserte sich. »Mit Eurer Erlaubnis, Madam, würde ich ihr gern einige Fragen stellen.«
Die Äbtissin neigte den Kopf.
»Und wenn ich Eure Freundlichkeit noch ein wenig mehr in Anspruch nehmen darf«, fuhr Rowley fort, »würde ich gern einen Teil meiner Leute hierlassen, während Doktor Mansur und seine Assistentin mich zum Wormhold Tower begleiten, um zu sehen, was sich dort machen lässt. Wie gesagt, unser guter Doktor verfügt über gewisse Fähigkeiten, die uns bei der Untersuchung der Angelegenheit helfen können …«
Nicht jetzt, dachte Adelia. Nicht heute. Um Gottes willen, Rowley, wir sind von der Reise erschöpft.
Sie hüstelte und fing Gylthas Blick auf. Gyltha versetzte Mansur, der neben ihr stand, einen Stoß. Mansur schaute sie beide an und sprach dann zum ersten Mal auf Englisch: »Euer Doktor braucht zuerst Ruhe.« Er fügte hinzu: »Mylord.«
»Von wegen Ruhe«, sagte Rowley, sah aber zu Adelia hinüber, die mit ihm kommen musste, wenn er weiterritt, oder warum war sie sonst hier?
Sie schüttelte den Kopf. Wir brauchen Ruhe, Rowley. Du brauchst Ruhe.
Die Augen der Äbtissin hatten den Blickwechsel registriert, und wenn er ihr sonst nichts verraten hatte, obwohl wahrscheinlich doch, so schloss sie daraus, dass die Angelegenheit damit geklärt war. »Wenn Ihr den Leichnam des armen Mannes untergebracht habt, wird Schwester Havis Euch zu Euren Unterkünften führen«, sagte sie.
Es war noch immer sehr dunkel und kalt. Die Nonnen sangen in ihrer Kapelle die Laudes, und alle anderen, die irgendeine Aufgabe zu erledigen hatten, waren damit in den Gebäuden beschäftigt, so dass niemand am Haupttor den geschlossenen Fuhrwagen bemerkte, in dem ein Toter lag.
Walt und die Waffenknechte bewachten ihn. Sie traten auf der Stelle, schlangen die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten, und überhörten gleichmütig die neugierigen Fragen des Klosterwärters, der sich aus dem unteren Fenster des Torhauses lehnte. Schwester Havis wies ihn schneidend an, den Kopf einzuziehen, die Fensterläden zu schließen und sich um seinen eigenen Kram zu kümmern. »Haltet den Mund, Fitchet.«
»Tu ich doch, oder?« Fitchet war gekränkt. »Tu ich doch immer, oder?« Die Fensterläden wurden zugeknallt.
»Tut er auch«, sagte Schwester Havis. »Meistens.«
Sie hielt die Laterne hoch und stapfte vor ihnen durch den Schnee.
Walt führte die Zugpferde hinter ihr her, der Bischof, Oswald und Aelwyn trotteten an seiner Seite, und Adelia und Mansur saßen auf dem Wagenbock.
Nachdem Rowley begriffen hatte, dass Adelia völlig erschöpft war, hätte er sie in das Zimmer gelassen, das für sie und Allie und Gyltha im Gästehaus hergerichtet worden war, doch dieser tote junge Mann war ihre Verantwortung. Sie mochte noch so gute Gründe haben, die unwürdige Behandlung des Leichnams erfolgte auf ihr Geheiß, daher musste sie ihm zumindest so viel Achtung zollen, wie es ihr unter diesen Umständen möglich war.