Sie folgten der Mauer, die die weitläufigen Gebäude und Gärten des Klosters umgab, bis zu der Stelle, wo auf der anderen Seite das Pferd des Toten lag.
Das Rauschen, das sie auf der Brücke gehört hatten, wurde lauter. Sie waren jetzt nahe am Wasser, entweder an der Themse oder an einem schnellen Zufluss, über dem noch kältere Luft aufstieg. Der Lärm wurde ohrenbetäubend.
Mansur und Adelia saßen so hoch auf dem Wagen, dass sie über die Mauer und, wenn keine Bäume im Weg waren, über den Fluss blicken konnten. Mansur zeigte auf die Brücke und auf eine Wassermühle am anderen Ufer.
Der Araber sagte etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Vielleicht, dass die Mühle noch im Dunkel gelegen hatte, als sie auf der Brücke gestanden, so dass sie sie nicht bemerkt hatten. Jetzt drang Licht aus den winzigen Fenstern in ihrem Turm, und das große Wasserrad drehte sich im Mühlgraben.
Sie hatten gehalten. Schwester Havis war vor einer großen Steinhütte stehengeblieben, die an die Mauer angebaut war, und schloss die Tür auf.
Im Licht ihrer Laterne war zu erkennen, dass die Hütte bis auf eine Leiter und ein paar Werkzeuge leer war. Der Boden bestand aus Steinplatten, doch den meisten Raum nahm eine gewölbte Eisenscheibe mit Griffen ein, die aussah wie der Deckel eines riesigen Topfes.
Schwester Havis trat beiseite. »Man kann sie nur zu zweit anheben.« Sie hatte die gleiche emotionslose Stimme wie ihre Mutter.
Aelwyn und Oswald mussten sich kräftig anstrengen, um den Deckel zu heben. Darunter war ein finsteres Loch, aus dem eine Kälte aufstieg, die selbst in der eisigen Hütte noch spürbar war, und mit ihr drang der Geruch von Stroh und gefrorenem Fleisch nach oben.
Der Bischof hatte der Priorin die Laterne aus der Hand genommen und kniete sich neben das Loch. »Wer hat das Eishaus gebaut?«
»Das wissen wir nicht, Mylord. Wir haben es entdeckt und instand gehalten. Die Mutter Äbtissin glaubt, dass es schon hier war, lange bevor unser Kloster gegründet wurde.«
»Vielleicht die Römer?« Rowley war fasziniert. Die Leiter wurde geholt und so hingestellt, dass er hinuntersteigen konnte. Seine Stimme hallte herauf, als er weitere Fragen stellte, die Schwester Havis kühl beantwortete.
Ja, dass es so weit von der Schlachterei des Klosters entfernt lag, war unpraktisch, aber vermutlich hatten seine Erbauer es so nah an einem eingedeichten Flussabschnitt errichtet, damit die Kammer nicht unterspült wurde und zugleich von der Nähe des kühlenden Wassers profitierte.
Ja, wenn an Michaeli geschlachtet wurde, weil nicht einmal Godstow alle Tiere über den Winter bringen konnte, wurde das meiste zwar eingepökelt, doch dank des Eishauses konnten sie bis in den Frühling hinein oder sogar länger gelegentlich frisches Fleisch genießen.
Ja, selbstverständlich fror der Mühlteich dort drüben nur in sehr kalten Wintern zu, doch in den letzten Jahren war jeder Winter kalt gewesen, und der letzte Frost hatte außergewöhnlich lang gedauert, so dass der Vorrat an Eisblöcken bis in den Sommer hinein hielt. Ja, Seine Lordschaft könne einen Abfluss für das Schmelzwasser sehen.
»Prächtig.«
Adelia hüstelte vielsagend. Rowleys Kopf tauchte auf. »Was denn?«
»Das Totengebet, Mylord.«
»Ach so, ja, natürlich.«
Der Leichnam wurde auf die Steinplatten gelegt.
Die Totenstarre war gewichen, wie Adelia mit Interesse bemerkte, aber das lag gewiss an der einigermaßen warmen Unterbringung im windgeschützten Stroh des Fuhrwagens. Unten in diesem eiskalten Loch würde sie wieder einsetzen.
Die sichere, feste Stimme des Bischofs von St. Albans klang durch die Hütte. »Domine, Iesu Christe, Rex gloriae … bewahre die Seelen der Verstorbenen vor den Qualen des Feuers, vor den Tiefen der Unterwelt … dass die Hölle sie nicht verschlinge, noch dass sie hinabstürzen in die Finsternis, sondern dass der Bannerträger Sankt Michael sie ins heilige Licht geleite, wie du es einst Abraham verheißen …«
Adelia fügte lautlos ihr eigenes Gebet hinzu. Und mögen diejenigen, die dich lieben, mir mein Tun vergeben.
Sie stieg zu Oswald und dem Bischof in das Loch hinunter, ehe der Tote hinabgereicht wurde. Ein schrecklicher Ort, wie ein kolossales gemauertes Ei, dessen Inneres rundum mit in Netze gestopftem Stroh isoliert war, über dem weitere Netze die Eisblöcke hielten. An Haken hingen Hälften von Rind, Lamm, Wild und Schwein, weiß von Frost und so dicht beisammen, dass sie nicht hindurchgehen konnte, ohne mit den Schultern an das Fleisch zu stoßen.
Sie suchte eine geeignete Stelle, und als sie sich aufrichtete, verfing sich ihre Kappe in den Krallen irgendwelcher toter Wildvögel, die an ihren eigenen Galgen baumelten.
Mit klappernden Zähnen – und nicht bloß vor Kälte – nahmen sie und die anderen die Füße des Toten entgegen, der von Aelwyn und Walt nach unten gereicht wurde.
Gemeinsam legten sie ihn so unter das Federwild, dass ihm eventuelle Tropfen nicht ins Gesicht fallen würden.
»Es tut mir leid. Furchtbar leid.« Als die anderen schon aus dem Loch gestiegen waren, blieb Adelia noch einen Moment länger bei dem Toten und gab ihm ein Versprechen. »Ob wir deine Mörder fangen oder nicht, ich lasse dich nicht lange hier unten.«
Für sie war es schon fast zu lang. Sie war so starr vor Kälte, dass sie es nicht mehr die Leiter hinaufschaffte und Mansur sie hochhieven musste.
Die Äbtissin überließ Rowley ihr Haus und beteuerte, es sei eine Entlastung für sie, weil es ihr ohnehin immer schwerer fallen würde, die hohen Stufen zur Haustür zu nehmen. Da er ihr vor Gott übergeordnet war, blieb ihr auch gar nichts anderes übrig, obwohl er so zum inneren Hof mit Kreuzgang, Kapelle, Refektorium und Dormitorium der Nonnen Zugang hatte, der Männern ansonsten nachts versperrt blieb. Nachdem sie einen Blick auf Pater Paton geworfen und befunden hatte, dass auch er keine sexuelle Gefahr darstellte, brachte sie den Sekretär bei seinem Herrn unter.
Jacques, Walt, Oswald und Aelwyn bezogen Quartier in den Unterkünften der Bediensteten.
Mansur erhielt einen schönen Raum im Gästehaus der Männer. Gyltha, Adelia, Allie und der Hund wurden ebenso angenehm im Frauenflügel neben der Kirche untergebracht. Verwinkelte Außentreppen führten jeweils zu den Türen der Gäste, so dass die Frauen im obersten Stock einen weiten Blick nach Westen über den Weg nach Oxford und die Felder der Abtei hatten, die sich sanft zur Themse hinabsenkten.
»Entendaunen«, sagte Gyltha, die ein großes Bett inspizierte, »und keine Flöhe.« Sie schaute unter die Bettdecke. »Und irgendein Engel hat heiße Steine reingelegt, um es anzuwärmen.«
Adelia wollte sich nur noch hinlegen und schlafen, und eine Zeitlang taten sie das alle drei.
Sie wurden von Glocken geweckt, von denen eine praktisch direkt neben ihren Ohren läutete und den Wasserkrug in seiner Schale auf dem einzigen Tisch im Raum erbeben ließ.
Adelia schnappte sich Allie, die zwischen ihr und Gyltha schlief, und fragte alarmiert: »Brennt es?«
Gyltha lauschte angespannt. Die wuchtigen Schläge kamen vom Kirchturm ganz in der Nähe, und gleichzeitig ertönten auch andere Glocken, blecherner und sehr viel weiter entfernt. »Es ist Sonntag«, sagte sie.
»Ach verdammt. Das kann doch nicht wahr sein.«
Doch nicht nur weil es die Höflichkeit gebot, sondern auch weil sie, wie Adelia sehr wohl bewusst war, in der Schuld der Äbtissin standen, war es unumgänglich, am Morgengottesdienst teilzunehmen, zu dem Godstows Glocken riefen.
Und sie riefen nicht nur die Menschen im Kloster. Die Kirche im äußeren Hof stand allen offen, Laien und Geistlichen (nicht jedoch irgendwelchen Ungläubigen und übelriechenden Hunden, so dass Mansur und Wächter weiterschlafen konnten), und heute kämpfte sich wirklich jeder aus dem Umland durch den Schnee hierher. Das Dorf Wolvercote kam geschlossen über die Brücke, da sein Gutsherr die eigene Dorfkirche hatte verfallen lassen.