Выбрать главу

Als Adelia mit Gyltha durch eine Seitentür eintrat, sah sie eine wuchtige Gestalt vor dem Altar knien, den Kopf unter der Kapuze gebeugt und die Finger so fest verschränkt, dass sie aussahen wie blanke Knochen.

Rowley stand auf, als die Frauen hereinkamen. Er sah müde aus. »Ihr kommt spät.«

»Ich musste die Kleine stillen«, erklärte Adelia.

Aus dem Hauptraum der Kirche war die monotone Stimme einer Nonne zu hören, die die Totenfürbitten aus dem Klosterregister verlas. Sie ging dabei sehr präzise vor. »Gott in deiner Gnade, erbarme dich der Seele von Thomas aus Sandford, der in St. Gile’s, Oxford, einen Obstgarten gestiftet hat und am Tag nach Martini im Jahre des Herrn 1143 heimging. Gütiger Jesus in deiner Gnade, nimm dich gnädig der Seele von Maud Halegod an, die drei Mark in Silber gespendet hat …«

»Hat Rosamunds Magd Euch irgendwas sagen können?«, flüsterte Adelia.

»Die?« Der Bischof gab sich keine Mühe, leise zu sprechen. »Das Weib ist irre, da hätte ich mehr aus den verdammten Eseln rausholen können, die ich den ganzen Nachmittag lang segnen musste. Sie blökt nur rum. Ehrlich, wie ein Schaf.«

»Wahrscheinlich habt Ihr sie eingeschüchtert.« Im vollen Ornat hatte er gewiss furchteinflößend gewirkt.

»Aber nein, ich habe sie nicht eingeschüchtert. Ich war bezaubernd. Die Frau ist hirnlos, das könnt Ihr mir glauben. Seht zu, dass Ihr sie irgendwie zum Reden bringt.«

»Das werde ich.«

Gyltha hatte in einer Ecke einige Betkissen gefunden und verteilte sie nun so im Kreis, dass das Kerzenlicht darauf fiel. Jedes trug das Wappen einer Adelsfamilie, deren Angehörige beim Kirchgang keine schmutzigen Knie bekommen wollten.

»Betkissen sind praktisch«, sagte Adelia und schob eines unter den Korb mit der schlafenden Allie, damit er nicht auf den kalten Steinen stand. Wächter ließ sich auf einem anderen nieder. »Wieso stiften die Reichen keine Betkissen für die Armen? Dann würde man sich länger an sie erinnern.«

»Die Reichen wollen nich, dass wir es bequem haben«, sagte Gyltha. »Ist nich gut für uns. Könnte uns auf dumme Gedanken bringen. Wo steckt denn der alte Araber?«

»Der Bote holt ihn gerade.«

Als er, gefolgt von Jacques, in einen Mantel gehüllt, durch die Seitentür eintrat, musste er den Kopf einziehen.

»Gut«, sagte Rowley. »Du kannst gehen, Jacques.«

»Ähm.« Der junge Mann trat kläglich von einem Bein aufs andere.

Adelia hatte Mitleid mit ihm. Die Arbeit eines Boten war wenig beneidenswert und einsam. Die meiste Zeit waren sie kreuz und quer im Land unterwegs und hatten nur ein Pferd als Begleitung. Ihre Herren verlangten viel von ihnen. Briefe mussten rasch abgeliefert und die Antworten noch rascher zurückgebracht werden. Entschuldigungen wie schlechtes Wetter, Stürze, unwegsames Gelände oder Vom-Weg-Abkommen wurden beiseitegefegt. Eher argwöhnte man, dass der Bote die Zeit und das Geld seines Auftraggebers in irgendeiner Schenke vergeudet hatte.

Rowley, so fand sie, ging besonders hart mit seinem Boten um. Wieso sollte der junge Mann nicht bei ihren Erörterungen dabei sein? Sie vermutete, Jacques’ Sünde bestand darin, dass er zwar die schlichte Livree von St. Albans trug, aber versuchte, seine geringe Größe durch Stiefel mit hohen Absätzen und eine lange Feder an der Kappe wettzumachen, was den Verdacht nahelegte, dass er ein Anhänger der von Königin Eleanor und ihrem Hof eingeführten Mode war, wonach Männer sich ebenso elegant kleideten wie Frauen. Diese Entwicklung wurde von der jungen Generation begrüßt, aber als verweichlicht von Männern abgelehnt, die wie Rowley, Walt und Oswald am liebsten Leder- oder Kettenpanzer trugen.

Walt hatte den Boten einmal nicht ganz unzutreffend als »’ne Selleriestange mit Wurzeln dran« beschrieben, und Rowley hatte Adelia gegenüber gegrollt, er fürchte, sein Bote sei »kein guter alter englischer Normanne«, sondern ein »rausgeputztes Jüngelchen«, was für ihn gleichbedeutend mit weibisch war. »Ich werde ihn entlassen müssen. Der Bursche parfümiert sich sogar. Ich kann doch meine Sendschreiben nicht von einem eitlen Gecken austragen lassen.«

Und das, dachte Adelia, aus dem Munde eines Mannes, der eine halbe Stunde braucht, um sein pompöses Ornat anzulegen.

Sie beschloss, sich für den Boten einzusetzen. »Kommt Master Jacques morgen mit zu Rosamunds Turm?«

»Natürlich.« Rowley war noch immer gereizt. »Kann doch sein, dass ich Botschaften versenden muss.«

»Dann wird er ebenso viel wissen wie wir auch, Mylord. Das tut er ohnehin schon, und ein Kopf mehr schadet nicht. Lasst ihn bleiben.«

»Na gut, meinetwegen.«

Vom Altar hinter dem Lettner ertönte noch immer das gemurmelte Gebet für die Toten, das auch die ganze Nacht über von verschiedenen Nonnen fortgesetzt werden würde. »… in deiner Gnade der Seele von Thomas Hookeday, dem Feldhüter unseres Sprengels, für die Sixpence, die er gestiftet hat …«

Rowley holte die Sattelrolle hervor, die dem Toten von der Brücke gehört hatte. »Hatte noch keine Zeit, sie mir anzuschauen.« Er löste die Riemen, legte sie auf den Boden und entrollte sie. Während Jacques hinter ihnen stand, saßen die vier drum herum und betrachteten den Inhalt.

Der spärlich war. Eine Lederflasche Ale. Ein halber Käse und ein Laib Brot, ordentlich in Tuch gewickelt. Ein Jagdhorn – seltsam bei jemandem, der ohne Begleitung oder Hunde unterwegs war. Ein ebenfalls sorgsam gefalteter Ersatzmantel mit Pelzbesatz, erstaunlich klein für den hochgewachsenen Mann.

Wohin auch immer er unterwegs gewesen war, er hatte darauf vertraut, dort Nahrung und Unterkunft zu finden. Nur mit dem Brot und dem Käse wäre er nicht weit gekommen.

Außerdem fanden sie einen Brief. Anscheinend war er direkt unter die Lasche zwischen die Schnallen der Lederriemen geschoben worden, welche die Rolle zusammenhielten.

Rowley hob ihn auf und strich ihn glatt.

»›An Talbot aus Kidlington‹«, las er, »›mögen der Herr und seine Engel Euch an diesem Tage segnen, an dem Ihr in das Mannesalter eintretet, und Euch vom Pfad der Sünde und allem Unrecht fernhalten, das hofft inniglich Euer liebnd. Vetter Wlm Warin, Diener des Rechts, der Euch hiermit 2 Mark in Silber als Anzahlung auf Euer Erbe übersendet, dessen Rest Ihr beanspruchen mögt, wenn wir uns sehen. Geschrieben am Tage unseres Herrn, dem 16. vor den Kalenden des Januar in meinem Kontor bei St. Michael am Nordtor von Oxford.‹«

Er blickte auf. »So, da haben wir’s. Jetzt kennen wir den Namen unseres Toten.«

Adelia nickte bedächtig. »Hmm.«

»Was ist denn nun schon wieder? Der Junge hat einen Namen, einen einundzwanzigsten Geburtstag und einen liebenden Vetter mit einer Anschrift. Genug, womit Ihr arbeiten könnt. Was er nicht hat, sind die zwei Mark in Silber. Ich denke, die haben jetzt die Diebe.«

Adelia registrierte, dass er nicht von »wir« sprach. Es würde also ihre Aufgabe sein, nicht die des Bischofs. »Findet Ihr das nicht seltsam?«, fragte sie. »Wenn das Familienwappen auf seiner Geldbörse uns nicht verraten hätte, wer er war, dann tut es dieser Brief. Der liefert ja fast schon zu viele Informationen. Welcher liebende Briefeschreiber nennt seinen Vetter denn ›Talbot aus Kidlington‹ anstatt einfach bloß ›Talbot‹?«

Rowley zuckte die Achseln. »Eine absolut übliche Anredeform.«

Adelia nahm ihm den Brief aus der Hand. »Und er ist auf Velin geschrieben. Teuer, für so eine kurze, persönliche Mitteilung. Wieso hat Master Warin kein Papier benutzt?«

»Alle Advokaten benutzen Velin oder Pergament. Für die ist Papier infra dignitatem.«

Doch Adelia bohrte weiter. »Und es ist zerknittert, einfach zwischen die Schnallen gestopft. Seht Ihr, an einer Stelle ist es angerissen. Kein Mensch geht so mit Velin um, das kann man immer wieder abschaben und neu benutzen.«

»Vielleicht war der Junge in Eile, als der Brief eintraf, und er hat ihn nur rasch weggesteckt. Oder er war wütend, weil er mit mehr als nur zwei Mark gerechnet hat? Oder Velin war ihm völlig schnuppe. Was es mir …«, der Bischof verlor allmählich die Geduld, »… in diesem Moment auch ist. Worauf wollt Ihr hinaus, Mistress?«