Adelia überlegte einen Moment.
Ob der Körper im Eishaus der des Talbot aus Kidlington war oder nicht, im Leben hatte er einem ordentlichen jungen Mann gehört; das hatte ihr sowohl seine Kleidung verraten als auch die Sorgfalt, mit der der Inhalt der Sattelrolle eingepackt worden war. Menschen mit einem solchen Ordnungssinn – und zu ihnen zählte Adelia – stopften nicht einfach mit der flachen Hand ein Dokument auf Velin in eine Öffnung, wie hier geschehen.
»Ich glaube, er hat den Brief nicht einmal gesehen«, sagte sie, »ich glaube, seine Mörder haben den Brief dort hineingesteckt.«
»Um Himmels willen«, fauchte Rowley sie an, »Ihr dichtet da viel zu viel hinein. Adelia, Wegelagerer hinterlegen bei ihren Opfern keine Briefe. Worauf wollt Ihr hinaus? Dass der Brief eine Fälschung ist, um uns in die Irre zu führen? Talbot aus Kidlington ist gar nicht Talbot aus Kidlington? Der Gürtel und die Börse gehören jemand ganz anderem?«
»Ich weiß es nicht.« Aber irgendwas stimmte nicht mit diesem Brief.
Sie besprachen, wie sie am folgenden Tag zu Rosamunds Turm kommen würden. Adelia sollte mit Rowley, Jacques und Walt über den Treidelpfad flussaufwärts reiten, während Mansur und ein Waffenknecht in einem Boot folgen würden, auf dem der Leichnam dann zurückgebracht werden sollte.
Während sie noch Einzelheiten besprachen, nutzte Adelia die Gelegenheit, um sich die verschiedenen Wappen genauer anzusehen. Keines passte zu dem auf der Börse oder dem Gürtel des jungen Mannes.
Rowley sagte zu Gyltha: »Du musst hierbleiben, Mistress. Die Kleine können wir unmöglich mitnehmen.«
Adelia blickte auf. »Ich lasse sie nicht hier zurück.«
Er sagte: »Es geht nicht anders, das wird kein Familienausflug.« Er ergriff Mansurs Arm. »Komm mit, mein Freund, mal sehen, was das Kloster so an Booten zu bieten hat.« Sie gingen nach draußen, gefolgt von Jacques.
»Ich lasse sie nicht hier zurück«, rief Adelia ihm nach, was die Fürbitte für die Toten hinter dem Lettner kurz ins Stocken brachte. Sie wandte sich an Gyltha. »Was fällt ihm ein. Das kommt nicht in Frage.«
Gyltha fasste Adelia bei den Schultern und drückte sie hinunter auf ein Betkissen, dann setzte sie sich neben sie. »Er hat recht.«
»Hat er nicht. Stell dir vor, wir werden durch den Schnee abgeschnitten oder durch irgendwas anderes. Sie muss gefüttert werden.«
»Dann sorge ich dafür.« Gyltha nahm Adelias Hand und schaukelte sie sacht. »Es wird Zeit, Mädchen«, sagte sie. »Höchste Zeit, dass sie abgestillt wird. Deine Milch wird knapp. Du weißt es, und die Kleine weiß es.«
Adelia bekam die Wahrheit zu hören, wie stets von Gyltha. Es stimmte, die Milch in ihren Brüsten wurde schon seit einigen Wochen spürbar weniger, und beide Frauen hatten Nahrung zu Brei zermanscht und mit Kuhmilch verrührt, um ihn in Allies gierigen Mund zu löffeln.
Als Adelia noch kinderlos war, hatte sie geglaubt, das Stillen wäre eine feuchte Peinlichkeit; stattdessen hatte es sich als eine der natürlichen Freuden des Lebens entpuppt und ihr darüber hinaus einen Vorwand geliefert, ihr Kind stets überallhin mitzunehmen. Denn die Mutterschaft war zwar eine weitere Wonne, hatte sie aber auch mit einer quälenden und unerwarteten Angst erfüllt, als wären ihre Sinne in den Körper ihrer Tochter und, wenn auch weniger intensiv, in den aller Kinder übertragen worden. Adelia, die einst jeden minderjährigen Menschen befremdlich gefunden hatte und ihn auch so behandelte, war jetzt offen für deren Kummer, ihre geringsten Schmerzen und jedes Unglück.
Allie hatte nur selten unter derlei Ungemach zu leiden. Sie war ein robustes Kind, und allmählich hatte Adelia erkannt, dass ihr Mitgefühl eigentlich ihr selbst galt, dem zwei Tage alten Winzling, der vor fast dreißig Jahren von unbekannten Eltern auf einem steinigen Hang im italienischen Kampanien ausgesetzt worden war. Als sie heranwuchs, hatte sie kaum darüber nachgedacht. Es war etwas, das mit einem Augenzwinkern betrachtet wurde, was sich schon darin zeigte, dass die Eheleute, die sie damals gefunden hatten, diesem für alle drei durchaus glücklichen Ereignis dadurch Rechnung trugen, dass sie ihr unter anderem den Namen Vesuvia gegeben hatten. Signor und Signora Aguilar, kinderlos, warmherzig, klug und exzentrisch, beide Ärzte, die in der freiheitlichen Tradition der wunderbaren Medizinschule von Salerno ausgebildet worden waren, er Jude, sie katholische Christin, hatten in Adelia nicht nur eine geliebte Tochter gefunden, sondern auch einen Verstand, der selbst ihre eigene Intelligenz übertraf, und sie hatten sie dementsprechend erzogen. Nein, es hatte keine Rolle gespielt, dass sie einst ausgesetzt worden war. Im Gegenteil, es hatte sich als das größte Geschenk erwiesen, das die leibliche, unbekannte, verzweifelte, trauernde oder gleichgültige Mutter ihrem Kind hatte machen können.
Bis dieses Kind selbst ein Kind gebar.
Dann brach sie heraus, die Angst. Wie ein Wirbelsturm, der nicht aufhören wollte; nicht allein die Angst, dass Allie sterben könnte, sondern Angst, dass Adelia selbst sterben könnte und das Kind ohne die Gnade zurücklassen müsste, die ihr selbst zuteil geworden war. Dann wäre es besser, wenn sie beide stürben.
O Gott, wenn der Giftmörder sich nicht mit Rosamunds Tod begnügte … Oder wenn die Mörder von der Straße ihnen unterwegs auflauerten … Oder wenn sie ihr Kind in Godstow zurückließ und dort plötzlich ein Feuer ausbrach …
Es war krankhaft, und Adelia wusste – denn so vernünftig war sie noch immer –, wenn das so weiterging, würde das sowohl ihr als auch Allie schaden.
»Es wird Zeit«, sagte Gyltha erneut, und da Gyltha es sagte, die verlässlichste aller Frauen, wurde es das auch.
Aber sie ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der Rowley eine Trennung verlangte, die ihr Kummer bereiten und Angst machen würde, so unbegründet Letztere auch sein mochte. »Er hat nicht zu entscheiden, ob ich sie hierlasse. Ich will sie nicht hierlassen. Ich will einfach nicht.«
Gyltha zuckte die Achseln. »Ist auch sein Kind.«
»Sollte man nicht meinen.«
Die Stimme des Boten ertönte von der Tür. »Ich bitte um Vergebung, Mistresses, aber Seine Lordschaft bittet darum, dass Ihr Bertha befragt.«
»Bertha?«
»Lady Rosamunds Magd, Mistress. Die mit den Pilzen.«
»Ach so, ja.«
Abgesehen von dem unaufhörlichen Totengebet in der Kirche und den kanonischen Stunden, war im Kloster Nachtruhe eingekehrt, so dass es in einer tiefen, mondlosen Finsternis lag. Als er die beiden Frauen zu ihrer Unterkunft führte, beschien der Lichtkreis aus Jacques’ Laterne nur den unteren Teil der Mauern und gut zwei Schritte des mit Schnee gesäumten Weges. Dort angekommen, gab Adelia ihrem Töchterchen einen Gutenachtkuss und überließ es Gyltha, die Kleine ins Bett zu bringen.
Sie und der Bote gingen allein weiter, verließen den äußeren Hof und gelangten auf offenes Gelände. Ein schwacher Geruch ließ ahnen, dass sie sich irgendwo in der Nähe von Gemüsegärten befanden, die jetzt durch den Frost abstarben.
»Wo führt Ihr mich denn hin?« Ihre Stimme klang bockig in der Dunkelheit.
»Leider zum Kuhstall, Mistress«, sagte Jacques entschuldigend. »Das Mädchen hat sich dort versteckt. Die Äbtissin wollte sie in der Küche unterbringen, aber die Köchinnen haben sich geweigert, mit ihr zu arbeiten, wo doch Lady Rosamund aus ihrer Hand das Gift bekommen hat. Die Nonnen haben versucht, mit ihr zu reden, aber sie sagen, es ist schwierig, aus der armen Seele irgendwas Sinnvolles rauszubekommen, und sie hat schreckliche Angst, dass die Haushälterin der Lady herkommt.«
Der Bote plauderte weiter, wollte beweisen, dass er es wert war, in den seltsamen inneren Ermittlerzirkel des Bischofs aufgenommen zu werden.