Geistesabwesend nahm Adelia das Kind von ihrer linken, nun leeren Brust und legte es an die andere, während sie die Belastungen auf Gehirn und Nabelschnur erwog, warum und wann es zum Erstickungstod kam, zu Blutverlust, Faulbrand … »Hmm.«
»Hier, Missis. Da kommt was.« Die Tochter führte die Hände ihrer Mutter an das Zaumzeug, das ans Kopfende des Bettes gebunden worden war.
Adelia legte ihr Kind zurück in den Korb, deckte es zu und trat ans Bett.
Da tauchte tatsächlich etwas aus dem Körper der Mutter auf, aber es war kein Kopf, sondern das Gesäß des Kindes.
Verdammt. Eine Steißgeburt. Sie hatte es befürchtet, aber als man sie geholt hatte, war das Kind schon zu weit abgesenkt gewesen; es war also zu spät, hineinzugreifen und den Fötus zu drehen, selbst wenn sie die Kenntnisse und den Mut dafür besessen hätte.
»Wollt Ihr’s nich rausziehen?«, fragte die Tochter.
»Noch nicht.« Sie wusste, es konnte verheerende Folgen haben, wenn in dieser Phase gezogen wurde. Stattdessen sagte sie zu der Mutter: »Jetzt müsst Ihr pressen. Ob Ihr wollt oder nicht, presst.«
Mistress Reed nickte, nahm ein Stück von dem Zaumzeug in den Mund, biss fest hinein und begann zu pressen. Adelia bedeutete dem Mädchen, mit anzufassen und den Körper der Mutter so tief herunterzuziehen, dass die Gesäßbacken über den Rand hingen und die Schwerkraft ihren Teil beitragen konnte.
»Halt die Beine fest. Fass sie an den Knöcheln, hinter mir. Hinter mir, richtig so. Gut gemacht, Mistress. Immer weiter pressen.« Sie selbst kniete, eine gute Stellung, um ein Kind zu holen – und zu beten.
Hilf uns, Herr.
Trotzdem wartete sie, bis der Nabel mit der Schnur daran erschien. Sie berührte die Schnur leicht – ein kräftiger Pulsschlag. Gut, gut.
Jetzt.
Mit raschen, aber behutsamen Bewegungen schob sie die Hand in den Geburtskanal und löste ein Bein, dann das andere, beugte die zarten Knie.
»Presst. So presst doch.«
O Wunder, da kamen von ganz allein, ohne gezogen zu werden, zwei Arme und der Körper bis zum Nacken herausgeglitten. Adelia hielt den Körper mit einer Hand, legte die andere auf den kleinen Rücken und fühlte das Beben von arbeitenden Lungen. Es atmete.
Jetzt kam’s drauf an. In wenigen Augenblicken drohte das Kind zu ersticken. Gott, welcher auch immer du bist, steh uns bei.
Er tat es nicht. Mistress Reed hatte keine Kraft mehr, und der Kopf des Kindes steckte noch immer fest.
»Gib mir die Tasche, die Tasche.« Im Handumdrehen hatte Adelia ihr Seziermesser herausgeholt, das sie stets sauber hielt.
»Jetzt.« Sie legte die Hand der Tochter auf die Scham von Mistress Reed. »Drück.« Sie stützte den kleinen Torso weiter ab und machte einen Schnitt ins Perineum der Mutter. Etwas gab nach, und weil sie das Messer noch in der Hand hielt, musste sie das Neugeborene in der Ellbogenbeuge auffangen.
Die Tochter schrie. »Es iss raus, Dadda.«
Master Reed erschien oben an der Treppe und verströmte Kuhmistgeruch. »Donnerwetter, was isses?«
Ganz benommen vor Erleichterung sagte Adelia: »Es ist ein Kind.« Hässlich, blutig, schmierig, froschartig, die Füße Richtung Kopf angewinkelt wie noch im Mutterleib, aber unversehrt und atmend, und als man ihm auf den Rücken klopfte, protestierte es gegen das Leben im Allgemeinen und gegen seinen Eintritt in selbiges im Besonderen – für Adelia der schönste Anblick und die schönsten Laute, die die Welt zu bieten hatte.
»Das ist klar, aber was iss es?«
»Ach so.« Adelia legte das Messer weg und drehte das Wunder um. Es war männlich, ganz eindeutig männlich. Sie sammelte sich. »Ich glaube, die Schwellung des Skrotums wird durch einen Bluterguss verursacht und ist nicht von Dauer.«
»Wenn doch, kann er sich später was drauf einbilden, was?«, sagte Master Reed.
Die Nabelschnur wurde durchtrennt, Mistress Reed genäht und zurechtgemacht, damit sie Besucher empfangen konnte, das Neugeborene in eine Wolldecke gehüllt und in die Arme seiner Mutter gelegt.
»He, Missis, wie ist Euer voller Name? Wir würden ihn gern nach Euch benennen«, sagte der Ehemann.
»Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar«, antwortete Adelia entschuldigend.
Schweigen.
»Und seiner?« Master Reed zeigte auf die hohe Gestalt Mansurs, der mit den Geschwistern heraufgekommen war, um das Wunder zu bestaunen.
»Mansur bin Fayîî bin Nasab Al-Masaari Khayoun aus Al Amarah.«
Wieder Schweigen.
Mansur, der durch seine Verbindung mit Gyltha die Sprache des Sumpfvolkes gelernt hatte, auch wenn er kaum Gelegenheit bekam, sie zu sprechen, sagte auf Arabisch: »Der Prior kommt, ich habe sein Boot gesehen. Die sollen den Jungen Geoffrey nennen.«
»Prior Geoffrey ist hier?« Im Nu war Adelia die Leiter hinunter und rannte auf die kleine Holzplattform hinaus, die als Steg diente. Alle Häuser und Hütten im Sumpfland hatten Zugang zu den zahllosen Flüssen, und sobald die Kinder hier laufen konnten, lernten sie, ein kleines Boot zu steuern.
Einer der liebsten Menschen, die Adelia auf der Welt hatte, stieg mit Hilfe eines livrierten Ruderers aus seinem Kahn. »Was macht Ihr hier?«, fragte sie und umarmte ihn zur Begrüßung. »Warum seid Ihr gekommen? Wie geht es Ulf?«
»Er ist ein Früchtchen, aber ein schlaues Früchtchen. Er gedeiht prächtig.« Gylthas Enkelsohn und, so wurde gemunkelt, auch der des Priors besuchte die Stiftsschule und würde sie erst zur Aussaat im Frühling verlassen.
»Ich bin so froh, Euch zu sehen.«
»Und ich bin froh, Euch zu sehen. In Waterbeach sagte man mir, wo ich Euch finden kann. Anscheinend muss der Berg zum Propheten kommen.«
»Und der Berg ist noch immer zu gewaltig«, sagte Adelia und trat zurück, um ihn genau zu betrachten. Der Prior des großen Stifts St. Augustine in Cambridge war ihr erster Patient und in der Folge ihr erster Freund in England gewesen. Sie sorgte sich um ihn. »Ihr habt meine Speisevorschriften nicht eingehalten.«
»Dum vivimus, vivamus«, sagte er. »Lasst uns leben, solange wir leben. Ich halte mich da an die Epikureer.«
»Wisst Ihr, wie hoch die Sterblichkeitsrate unter Epikureern ist?«
Sie sprachen fließend in klassischem Latein miteinander, weil es ihnen praktisch in die Wiege gelegt worden war, aber die Männer im Kahn des Priors fragten sich, was ihr Herr vor ihnen verbergen wollte, was er zu dieser Frau sagte und, das größte Rätsel überhaupt, wieso diese Frau es verstehen konnte.
»Aber Ihr kommt gerade recht«, sagte Adelia, »um das erste von mir auf die Welt geholte Neugeborene zu taufen. Das wird die Eltern beruhigen, dabei ist der Kleine gesund und kräftig.«
Adelia hielt genauso wenig von der christlichen Kindstaufe wie von den, wie sie meinte, barbarischen Dogmen der drei großen Religionen. Ein Gott, der das kleine Geschöpf, falls es starb, nicht in sein himmlisches Reich lassen würde, wenn es nicht zuvor, von bestimmten Worten begleitet, mit Wasser besprengt worden war, war kein Gott, mit dem sie irgendwas zu tun haben wollte.
Aber für die Eltern war die Zeremonie überaus wichtig, und wenn auch nur, damit eine christliche Beerdigung stattfinden konnte, sollte das Schlimmste geschehen. Master Reed hatte schon nach dem schmierigen Wanderpriester schicken wollen, der das Gebiet betreute.
Die Familie Reed sah schweigend zu, wie mit Edelsteinen geschmückte Finger die Stirn ihres Sohnes benetzten und eine Stimme, die ebenso samtweich war wie das Ornat ihres Besitzers, ihn im Glauben willkommen hieß, ihm das ewige Leben verhieß und ihn auf den Namen Geoffrey taufte, »im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen«.