Er muss doch wissen, wo sie ist, dachte Adelia. Das einzige Leben hier ist im obersten Zimmer bei der Toten.
»Dann rauf mit dir.« Schwyz wandte sich ab, um seinen Männern Befehle zu geben, dann drehte er sich wieder um. »Was soll mit der Hure geschehen?«
»Der Hure?« Der Abt blickte auf Adelia herab. »Die behalten wir bis zum letzten Moment, denke ich, nur für alle Fälle. Sie soll mit hochkommen und mir helfen, nach den Briefen zu suchen.«
»Warum? Hier unten ist sie besser aufgehoben.« Schwyz war eifersüchtig.
Der Abt hatte Geduld mit ihm. »Weil ich keine Briefe gesehen hab, als wir das letzte Mal hier waren, aber die kleine Mistress Adlerauge hatte einen, nicht wahr, meine Teuerste? Wenn sie einen gefunden hat, kann sie auch die anderen finden. Fessle ihr meinetwegen die Hände, aber diesmal vor dem Körper und nicht zu fest; sie sieht angegriffen aus.«
Wieder wurden Adelia die Hände zusammengebunden, und das nicht gerade sanft.
»Los, rauf mit dir.« Der Abt zeigte auf die Treppe. »Los, los, los.« Zu dem Söldner sagte er: »Sag den Männern, sie sollen sich um mein Essen kümmern. Und Schwyz …« Sein Tonfall hatte sich geändert.
»Was?«
»Lass ja den Fluss gut bewachen.«
Er hat Angst, dachte Adelia plötzlich, er traut Henry übernatürliche Kräfte zu. O Gott, wenn er doch recht hätte.
Es war nicht leicht, die enge, gewundene, rutschige Treppe mit den keilförmigen Stufen hinaufzusteigen, ohne sich mit den Händen abstützen zu können, doch Adelia kam besser voran als der Abt, der vor Anstrengung schnaufte, noch ehe sie zum zweiten Absatz gelangten. Jetzt war der Punkt erreicht, wo der Turm alle Geräusche von unten verschluckte und eine Stille entstand, in der das Echo ihrer Schritte in den Ohren gellte, als verletzten sie ein Gebot der Toten. Zurück! Das hier ist ein Grab.
Licht, das kaum Licht war, fiel schwach durch die Schießscharten und erhellte dasselbe Durcheinander, das schon auf den Treppenabsätzen gelegen hatte, als sie mit Rowley hier heraufgekommen war. Niemand hatte es beseitigt, niemand würde es je tun.
Höher und höher, vorbei an Rosamunds Gemächern, die jetzt ihrer Teppiche und Goldverzierungen beraubt waren. Söldner hatten sie geplündert, vielleicht sogar die Aquitanier, während Eleanor Totenwache bei einer Leiche gehalten hatte. Es hatte ihnen kein Glück gebracht; die Plünderer lagen jetzt mit ihrer Beute auf dem Grund der Themse.
Sie näherten sich ihrem Ziel.
Ich will nicht da rein. Wann ist es endlich vorbei? Es kann doch nicht sein, dass ich hier sterben soll. Warum macht dem niemand ein Ende?
Das oberste Stockwerk. Die Tür einen Spaltbreit offen, aber mit dem eleganten Schlüssel im Schloss.
Adelia trat zurück. »Ich geh da nicht rein.«
Der Abt packte sie an der Schulter und stieß sie weiter. »Dakers, meine Gute. Der Abt von Eynsham ist hier, Euer alter Freund, um Eurer Herrin die Ehre zu erweisen.«
Ein Gestank, der mit der Kraft eines Windstoßes herüberwehte, ließ ihn auf der Türschwelle schwanken.
Das Zimmer war so, wie Adelia es zuletzt gesehen hatte. Hier war nicht geplündert worden – die Zeit hatte nicht gereicht.
Rosamund saß nicht mehr an dem Schreibtisch, doch dafür lag irgendetwas auf dem Bett, umrahmt von durchscheinenden Vorhängen und mit einem Umhang über der oberen Hälfte.
Von Dakers war nichts zu sehen, doch falls sie wieder versucht hatte, ihre Herrin zu konservieren, so war es ein Fehler gewesen, die Fenster zu schließen und Kerzen anzuzünden.
»Allmächtiger.« Mit einem Taschentuch vor der Nase hastete der Abt durch das Zimmer, blies Kerzen aus und öffnete Fenster. »Allmächtiger, die Hure stinkt. Allmächtiger.«
Feuchte, graue Luft brachte ein wenig Frische in den Raum.
Eynsham trat mit einem faszinierten Blick ans Bett.
»Lasst sie in Ruhe«, riet Adelia ihm.
Er riss den Umhang von der Leiche und ließ ihn zu Boden fallen. »Aaah.«
Ihr schönes Haar lag fächerartig um das verwesende Gesicht ausgebreitet auf einem Kissen. Ein weiteres Kissen stützte die Krone über dem Kopf. Die gekreuzten Hände auf der Brust waren Gott sei Dank unter einem Gebetbuch verborgen. Füße quollen nass aus den zierlichen Goldschühchen, die unter den hübschen, sorgsam angeordneten Falten eines Gewandes hervorlugten, das so blau war wie ein Frühlingshimmel. An manchen Stellen sickerte Flüssigkeit durch die Seide.
»Oje, oje«, sagte der Abt leise. »Sic transit Rosa Mundi. Die Rose der Welt verfault also doch wie alle anderen … die Faulige Rosamund …«
»Wagt es nicht«, schrie Adelia ihn an. Wären ihre Hände nicht gefesselt gewesen, sie hätte ihn geschlagen. »Wagt es nicht, sie zu verspotten. Ihr habt sie in diesen Zustand gebracht, und bei Gott, auch Ihr werdet irgendwann so enden – und Eure Seele ebenso.«
»Aber …« Er trat zurück wie ein Kind, das von einer erzürnten Mutter zurechtgewiesen wird. »Nun ja, es ist schauerlich … gebt zu, dass es schauerlich ist.«
»Das ist mir egal. Behandelt sie gefälligst mit Würde.«
Einen Moment lang war er durch seine eigene Geschmacklosigkeit verunsichert. Zögernd trat er zurück, und seine Hand malte einen Segen in Richtung Bett in die Luft. »Requiescat in pace.« Dann fragte er: »Was ist das weiße Zeug, das da aus ihrem Gesicht wächst?«
»Leichenwachs«, erklärte Adelia.
Im Grunde war das sehr interessant. Sie hatte noch nie welches an Menschen gesehen, nur an dem Fleisch einer Sau auf der Todesfarm.
Einen Moment war sie wieder eine Totenleserin, die sich ausschließlich auf das Phänomen vor ihr konzentrierte und leicht verärgert war, dass Zeitmangel und fehlende Mittel sie daran hinderten, es genau zu untersuchen.
Weil Rosamund dick war, dachte sie, deshalb. Die Sau in Salerno war fett gewesen, und Gordinus hatte sie in einer luftdichten Truhe vor den Fliegen geschützt aufbewahrt. »Siehst du, mein Kind? Ohne die Insekten sammelt sich dieses weiße Fett – ich nenne es corpus adipatum – an den fülligeren Bereichen des Körpers, Wangen, Brüste, Gesäß und so weiter, und behindert den Fäulnisprozess, verzögert ihn sogar. Obgleich noch herauszufinden wäre, ob es die Verzögerung verursacht oder durch die Verzögerung verursacht wird.«
Gordinus, Gott segne ihn, hatte es als ein Wunder bezeichnet, was es auch war – eine Schande, dass sie dieses Phänomen erst jetzt an einer menschlichen Leiche sah.
Besonders interessant war, dass die neue Wärme im Raum zugleich die Fäulnis herbeiführte, zumindest den nassen Flecken auf Rosamunds Gewand nach zu urteilen. Die konnte doch nicht durch die Fliegen verursacht sein – oder? –, um diese Zeit des Jahres gab es keine … Herrje, wenn ihre Hände frei wären, könnte sie nachsehen, was da unter dem Stoff gärte …
»Oh, was ist?«, fragte sie barsch.
Der Abt zog an ihr.
»Wo bewahrt sie die Briefe auf?«
»Welche Briefe?« Diese Möglichkeit, die Wissenschaft voranzubringen, bot sich vielleicht nie wieder. Wenn es nicht die Fliegen waren …
Er drehte sie herum, so dass sie ihn ansah. »Ich will Euch meine Situation erklären, werte Mistress. Bei alldem habe ich nur meine Christenpflicht getan, um einen König zu stürzen, der den guten St. Thomas auf den Stufen seiner eigenen Kathedrale ermorden ließ. Ich wollte einen Bürgerkrieg herbeiführen, den unsere huldvolle Königin gewinnen sollte. Da dieser Ausgang nun unwahrscheinlich geworden ist, muss ich mich neu positionieren, denn wenn Henry meine Briefe findet, wird er sie dem Papst zukommen lassen. Und wird der Heilige Vater gutheißen, was ich getan habe, um die Gottlosen zu strafen? Wird er sagen: ›Gut gemacht, du frommer und treuer Robert von Eynsham, du hast unserer großen Sache gedient‹? Nein, das wird er nicht. Er muss Empörung heucheln, weil im Zuge des Ganzen eine wertlose Hure vergiftet wurde. Er wird sich die Hände waschen wie Pilatus. Wird es Lorbeeren geben? Anerkennung? Ha, nein.«