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»Welchen Grund?«, fragte Arri entgeistert.

»Der Grund ist, dass du zwei Jahre älter bist, als ich es dir und allen anderen gesagt habe«, antwortete ihre Mutter leise. Sie versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. »Ich wollte es dir sagen. Immer wieder, den ganzen Sommer schon, das musst du mir glauben, Arianrhod. Aber ich habe mir einzureden versucht, dass es nicht nötig wäre, dass ich genug für das Dorf und Goseg täte und dass sie mich und dich in Ruhe ließen. Doch das stimmt nicht. Heute ist Nor gekommen, um einzufordern, was der Gemeinschaft nach altem Recht zusteht.«

»Und das wäre?«, fragte Arri in fassungslosem, ängstlichem Ton, als ihre Mutter nicht weitersprach.

Lea biss sich auf die Unterlippe und schüttelte leicht den Kopf, als könne sie sich so vor einer Antwort drücken. »Dich und deine Mitgift«, flüsterte sie schließlich.

Arri war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, dass etwas mit ihr nicht stimmte, und sie kannte die alten Bräuche mittlerweile gut genug, dass sie nicht hätte überrascht sein dürfen über das, was ihre Mutter ihr gerade offenbart hatte. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Ihre Hütte stand so weit abseits vom Dorf, und ihre Mutter und sie lebten so anders als alle anderen, dass sie nie auf den Gedanken gekommen war, dass ihr gewohntes Leben schon bald zu Ende gehen könnte, nur weil plötzlich nicht mehr Leas, sondern Gosegs Gesetz über sie bestimmen sollte. »Deshalb hast du gesagt, dass wir auch weggehen könnten«, sagte sie schließlich tonlos.

Ihre Mutter nickte. »Ja. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst. Natürlich... wenn du willst... wenn dir das Leben an der Seite eines Mannes...«

Arri schüttelte heftig den Kopf. »Nein!« Sie schrie fast. »Ich will nicht.« Die Vorstellung, von einem dieser widerwärtigen bärtigen Männer aus dem Dorf zur Frau genommen zu werden, um ihm von da an für den Rest ihres Lebens treu und ergeben zu dienen, war ihr unerträglich. »Ich will weiter mit dir zusammenleben«, fuhr sie nicht minder heftig fort. »So, wie wir die ganzen Jahre zusammengelebt haben.«

Ihre Mutter lächelte traurig. »Ich fürchte, das wird nicht gehen. Für eine Weile kann ich Nor und die anderen noch hinhalten. Aber nicht mehr lange. Nor hat mir unmissverständlich klargemacht, dass er meine Entscheidung erwartet, noch bevor der erste Schnee gefallen ist. Und natürlich hat er diesen Zeitpunkt mit Bedacht gewählt. Niemand verlässt freiwillig ausgerechnet vor Wintereinbruch sein Dorf, um zu versuchen, irgendwo anders unterzukommen. Selbst jetzt wäre es schon zu spät, eine Sippe außerhalb des Einflussbereichs von Goseg zu finden, die uns gestattet, bei ihr zu siedeln. Wer das Recht erwerben will, sich an den Wintervorräten eines Dorfes zu bedienen, muss auch geholfen haben, sie aufzufüllen. Deswegen ist der einzig vernünftige Zeitpunkt für einen Ortswechsel das Frühjahr. Und wir müssen sehen, dass wir hier irgendwie so lange durchhalten, wenn wir in diesem Winter nicht Gefahr laufen wollen zu verhungern.«

Arri starrte ihre Mutter fassungslos an. Tief in ihrem Herzen stieg eine kalte Form der Empörung hoch, ein beißender Zorn, der sich nicht auf Nor richtete, sondern auf ihre Mutter, die ihr gerade beiläufig eröffnet hatte, dass sie sie die ganze Zeit über belogen hatte - und dass sie schon in zwei, drei Mondwenden vom Hungertod bedroht sein könnten! »Um mir das zu sagen, führst du mich mitten in der Nacht an diesen entlegenen Ort?«

»Aber nein, Kind.« Lea fuhr sich mit einer fast verloren wirkenden Geste durch die Haare. »Ich habe dich hierher geführt, um dich auf etwas vorzubereiten, was uns beiden möglicherweise schon allzu bald bevorsteht: auf einen Kampf. Nor und die anderen werden es nicht hinnehmen, dass ich mich gegen ihre Tradition ausspreche. Sie verlangen als Mitgift mein Wissen und meine Fertigkeiten. Und die kann ich ihnen nicht geben, selbst wenn ich es wollte.«

Arri hatte das Gefühl, als werde ein rot glühender Stachel durch ihr Herz getrieben. »Dann habe ich also nie vor einer freien Entscheidung gestanden? Dann hättest du niemals erlaubt, dass ich mir einen Mann aus dem Dorf nehme?«

Leas Mine gefror zu etwas, das ein eisiges Lächeln hätte sein können, aber auch etwas ganz anderes, vielleicht der Nachhall einer fernen Erinnerung. »Doch, das hätte ich. Und ich hätte einen Weg gefunden, um dennoch das Geheimnis meines Wissens zu wahren, dessen wahre Existenz niemand anderer kennt, noch nicht einmal du.« Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach. »Noch ist es nicht zu spät. Du kannst dich noch entscheiden. Wenn du von deiner Seite aus Nors Drängen nachgeben willst...«

Arri hob unwillkürlich den Stock ein Stück höher, als wollte sie damit zuschlagen. »Ja, was dann?«

»Dann werde ich dir nicht im Weg stehen«, antwortete ihre Mutter mit fester Stimme. »Du bist kein Kind mehr. Es ist deine Entscheidung.«

Arri umklammerte den Stock so fest, dass ihre Knöchel weiß hervorstachen. Ihre Gefühle wirbelten wild durcheinander. Zu dem Zorn auf ihre Mutter hatte sich Verwirrung, ja, fast schon Verstörtheit gesellt. Bislang hatte ihre Mutter über alles bestimmt, was ihr Leben ausmachte. Und das sollte ausgerechnet jetzt anders sein, wo sie gleichzeitig zugegeben hatte, sie all die Jahre über belogen zu haben?

»Du darfst mir glauben«, fuhr Lea fort, als spüre sie ganz genau, was in Arri vorging. »Im Dorf mag es nicht üblich sein, die Mädchen um ihr Einverständnis zu bitten, wenn sie einem Mann versprochen werden sollen. In meiner Heimat war das anders. Und ich sehe nicht ein, warum ich in deinem Fall anders verfahren sollte, als es mir meine Tradition vorschreibt.«

Arri schwieg. Es hätte vieles gegeben, was sie ihrer Mutter in diesem Moment an den Kopf hätte werfen können. Aber nichts davon hätte etwas an ihrer Lage geändert wie auch an der körperlichen Abneigung, die sie bei dem Gedanken empfand, ihr Leben fortan mit jemandem wie dem nach Fisch stinkenden Rahn teilen zu müssen.

»Also gut«, sagte ihre Mutter schließlich, als hätte sie auch diesmal wieder ihre Gedanken gelesen. »Wenn du deine Entscheidung getroffen hast, dann schlag zu. Und keine Angst. Ich werde dir nicht böse sein, wenn du triffst.«

Irgendwie, fand Arri, klang das so, als wäre es ganz und gar ausgeschlossen, dass sie traf. Das fand Arri in einer Lage wie dieser mehr als leichtsinnig. Sie rang noch einen Augenblick lang mit sich selbst, dann aber holte sie aus und schlug noch einmal - und diesmal deutlich kräftiger - zu.

Ihre Mutter machte sich weder die Mühe, dem Schlag auszuweichen, noch ihn wirklich abzuwehren. Das musste sie auch nicht. Sie hob nur beinahe gemächlich den Arm und packte mit zwei Fingern den Stock, den Arri im letzten Moment zurückgerissen hatte, als ihr klar geworden war, dass sie tatsächlich im Begriff stand, ihre Mutter zu treffen. Arri hätte nicht zu sagen vermocht, ob der Ausdruck auf ihrem Gesicht dabei ein Lächeln oder mühsam unterdrückter Ärger war.

»Bitte, Arri, das ist kein Spiel«, sagte sie. »Nicht, nachdem Nor mich und dich so herausgefordert hat. Ich will, dass du versuchst, mich zu treffen. Tu mir weh!«

Das war mit Sicherheit das Letzte, was Arri wollte, trotz des Zorns, den sie darüber empfand, dass ihre Mutter ihr neben vielem anderen sogar ihr richtiges Alter verschwiegen hatte, und trotz der klitzekleinen Tatsache, dass sie in diesem Winter verhungern könnten, obwohl sie für Sarns Sippe mehr als genug getan hatten, um sich einigermaßen durchfüttern zu lassen. Aber wenn sie darauf bestand... Als Arri das nächste Mal ausholte, legte sie zwar noch nicht ihre ganze Kraft, aber doch einen guten Teil davon in den Schlag und zielte wieder auf den Oberarm ihrer Mutter. Falls sie traf, würde es vermutlich wehtun, aber mehr auch nicht.