Obwohl sie noch immer so schlaftrunken war, dass sie mehr taumelte als ging, stürmte sie zwischen den Felsen hervor, streifte die Decke ab, in die sie sich gewickelt hatte, und ließ sie achtlos zu Boden fallen, während sie sich gleichzeitig blindlings nach rechts wandte. Um ein Haar wäre sie gegen den Wagen geprallt, der als riesiges, gefährliches Hindernis jäh aus der Dunkelheit vor ihr auftauchte. Es gelang ihr im letzten Moment, die Hand auszustrecken, sodass sie nur einen dumpfen Schmerz spürte, der durch ihr Handgelenk schoss, statt sich ernsthaft zu verletzen, aber sie torkelte einen Schritt zurück und musste hastig mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen. Das dumpfe Geräusch, mit dem sie gegen den Wagen geprallt war, vielleicht auch ihre heftige Bewegung, hatte eines der Pferde geweckt.
Das Tier, das anscheinend im Stehen geschlafen hatte, drehte mit einem unwilligen Schnauben den Kopf in ihre Richtung und scharrte mit den Hufen, und im nächsten Moment hörte Arri hinter sich einen neuen Laut: das seidige Flüstern einer Stimme, die nahezu die gleiche Tonlage hatte wie der Wind, der über das Gras strich, sodass sie sie bisher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Ihre Mutter. Sie sprach mit jemandem. Hatte sich Dragosz doch entschlossen, sich zu zeigen, oder hatte er sich vorhin gar einen Scherz mit ihr erlaubt, als er sie bat, ihrer Mutter nichts von seiner Anwesenheit zu verraten - oder sie möglicherweise sogar auf die Probe stellen wollen?
Arris Benommenheit war mittlerweile vollkommen verflogen. Langsam und mit schon wieder heftig klopfendem Herzen drehte sie sich um und versuchte die Dunkelheit mit Blicken zu durchbohren, aber es war ein sinnloses Unterfangen. Die Nacht war so kalt, wie sie es befürchtet hatte, aber noch sehr viel dunkler, und der Himmel hatte sich fast gänzlich zugezogen, sodass weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Das wenige Licht, das irgendwie seinen Weg durch die geschlossene Wolkendecke gefunden hatte, reichte gerade aus, damit man die sprichwörtliche Hand vor Augen sehen konnte, aber kaum weiter. Ihre Mutter und Dragosz konnten eine Pfeilschusslänge entfernt sein und auf der anderen Seite der Felsen stehen, genauso gut aber auch direkt vor ihr.
Was sollte sie tun? Wenn Dragosz wirklich zurückgekommen war, um mit ihrer Mutter zu reden, dann würde sie alles erfahren, und auch, wenn Arris Vernunft ihr klarzumachen versuchte, dass an ihrem Gespräch eigentlich rein gar nichts Verbotenes oder auch nur Verfängliches gewesen war, begann ihr Herz doch allein bei der Vorstellung schneller zu klopfen, und ihr schlechtes Gewissen wurde noch stärker. Sie hatte nichts getan, dessen sie sich zu schämen brauchte, und dennoch erfüllte sie der Gedanke, dass Dragosz jetzt mit ihrer Mutter reden könnte, beinahe mit Entsetzen. Sie war davon überzeugt, dass ihre Mutter sie nur ein einziges Mal ansehen musste, um zu wissen, was sie in diesem Augenblick gefühlt und gedacht und vor allem, was sie sich gewünscht hatte.
Trotzdem ging sie nach kurzem Zögern weiter. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, einfach an ihren Schlafplatz zurückzukehren und so zu tun, als wäre sie gar nicht erwacht, aber sie erwog diese Möglichkeit gerade so lange, wie sie brauchte, um den Gedanken zu Ende zu denken. Die Dunkelheit würde ihr Schutz gewähren, sodass ihre Mutter ihr kleines Täuschungsmanöver gewiss nicht durchschauen würde, aber die Ungewissheit war schon jetzt so gut wie unerträglich. Nicht zu wissen, mit wem Lea dort auf der anderen Seite der Felsen sprach - und vor allem worüber! -, wäre mehr, als sie ertragen konnte.
So leise sie konnte, den linken Arm tastend vorgestreckt, um nicht in der Dunkelheit erneut gegen ein Hindernis zu prallen und sich vermutlich zu verraten, ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und umrundete die Felsgruppe in der anderen Richtung. Das Wispern der Stimme wurde lauter, aber nicht verständlicher. Doch jetzt war sie beinahe sicher, dass es die Stimme ihrer Mutter war, und zwar nur ihre Stimme; wenn sie mit jemand anderem sprach, dann beschränkte sich dieser andere aufs Zuhören und sagte selbst nichts.
Sie konnte ein wenig besser sehen, als sie die Felsen umrundet hatte und die weite Grasebene wieder vor ihr lag; in der Dunkelheit ein Meer aus Schwärze, die nur ein wenig tiefer war als die über ihr, und doch reichte dieser winzige Unterschied aus, um die schlanke Gestalt auszumachen, die in einem Dutzend Schritte Entfernung dastand und zum Himmel hinaufsah. Es war ihre Mutter, und sie war allein.
Arri konnte nicht erkennen, was sie tat - oder ob sie überhaupt etwas tat -, aber sie schien sich auf etwas zu stützen, und jetzt, als sie näher war und sich darauf konzentrierte, hörte sie auch, dass ihre Stimme monoton klang; gleichförmig und nahezu ohne Betonung, und es war irgendetwas Seltsames darin, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war.
Sie zögerte wieder. Ein spürbares Gefühl von Erleichterung machte sich in ihr breit, ihre Mutter allein zu sehen und nicht etwa zusammen mit Dragosz, aber zugleich nahm ihre Verwirrung eher noch zu. Sie verstand nicht, mit wem ihre Mutter da redete. Anscheinend mit niemandem, aber das war allerhöchstens etwas, was sie von den kleinen Kindern im Dorf kannte oder dem verrückten Achk, doch nicht von ihrer Mutter.
Sie zögerte noch einen allerletzten Augenblick, aber dann ging sie weiter. Sie hatte sich verschätzt, was die Entfernung anbetraf; Lea war noch viel weiter entfernt, als sie geglaubt hatte, aber der Wind stand günstig, sodass sie sie jetzt deutlich hören konnte. Trotzdem verstand sie sie nicht. Es war die Stimme ihrer Mutter, doch sie redete in einer Sprache, die sie nicht kannte und die ihr auch nicht im Geringsten vertraut vorkam.
Schließlich hielt Lea in ihrem sonderbaren Singsang inne und drehte sich zwar nicht zu ihr um, wandte aber den Kopf, und trotz der vollkommenen Dunkelheit, die ihre Gestalt und auch ihr Gesicht noch immer zu einem flachen, tiefenlosen Schatten herabminderte, glaubte Arri ihr sanftes Lächeln zu spüren; wie die flüchtige, aber sehr warme Berührung einer großen, beschützenden Hand.
»Komm ruhig näher, Arianrhod«, sagte sie. »Du musst nicht schleichen.«
»Ich... wollte dich nicht stören«, antwortete Arri stockend. Sie war ihrer Mutter nun nahe genug, um trotz der Dunkelheit erkennen zu können, dass sie tatsächlich allein war. »Was tust du hier?«
Eine geraume Weile verstrich, so als müsse Lea erst über die Antwort nachdenken - vielleicht aber auch über den Sinn ihrer Frage -, und sie wandte den Kopf wieder und sah in die gleiche Richtung wie zuvor, ehe sie sprach. »Ich halte Zwiesprache mit den Göttern. Aber bisher haben sie nicht geantwortet.«
»Mit den Göttern?« Arri war stehen geblieben, als ihre Mutter sie angesprochen hatte, doch nun ging sie langsam weiter, hielt aber auf gut drei- oder vierfacher Armeslänge wieder inne, fast ohne es selbst zu merken. Plötzlich verspürte sie beinahe so etwas wie Scheu, ihrer Mutter noch näher zu kommen. »Aber du hast mir doch selbst gesagt, es gäbe sie gar nicht.«
»Das ist kein Grund, nicht mit ihnen zu reden.« Lea lachte; wenigstens nahm Arri an, dass das Geräusch ein Lachen sein sollte. Es klang bitter, aber nicht so bitter, wie sie erwartet hätte. »Einen Versuch war es wert, oder?«
Arri war nicht sicher, ob sie wirklich verstand, was ihre Mutter ihr sagen wollte. Sie war nicht einmal sicher, ob die Worte tatsächlich ihr galten. Sie schwieg. Nachdem eine weitere, kleine Ewigkeit vergangen war, in der weder sie noch ihre Mutter etwas gesagt hatten, überwand sie ihre Scheu und ging weiter, bis sie unmittelbar neben ihr stand. Lea reagierte auch darauf nicht, jedenfalls nicht im ersten Moment. Erst nach einiger Zeit streckte sie den Arm aus und legte die Hand sacht auf ihre Schulter, sah aber nicht auf sie herab, sondern blickte weiter in den wolkenverhangenen schwarzen Himmel hinauf.
»Es gab eine Zeit, da habe ich täglich mit ihnen gesprochen«, flüsterte sie, legte eine neuerliche, lange Pause ein, und fuhr dann plötzlich und übergangslos in derselben, fremdartigen Sprache fort, die Arri vorhin gehört hatte; einer Sprache, von der sie plötzlich gar nicht mehr sicher war, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sie hörte nichts, was sie jemals gehört hatte, ja, sie war nicht einmal ganz sicher, ob es Worte waren oder vielleicht etwas völlig anderes, Geheimnisvolleres. Möglicherweise etwas wie ein Lied. Doch wenn, dann war es ein unendlich trauriges Lied.