»Haben all diese Sterne Namen?«, fragte sie.
»Nicht alle«, antwortete Lea. »Aber viele. Du wirst sie lernen müssen.«
»Aber es sind so viele«, murmelte Arri. »Was bedeuten sie?«
»Alles«, antwortete Lea. »Vielleicht habe ich zeit meines Lebens zu den falschen Göttern gebetet, Arianrhod. Vielleicht sind wir alle dumm und mit Blindheit geschlagen. Wir heben den Blick in den Himmel und suchen die Götter hinter der Welt, die wir sehen können, und doch ist die Antwort vielleicht die ganze Zeit dort oben.«
»In den Sternen?«, vergewisserte sich Arri.
»Sie sind alles«, antwortete ihre Mutter, doch sie tat es in einem Ton, der diese Worte irgendwie nicht wirklich zu einer Antwort machte, als hätte es Arris Frage nur bedurft, damit sie sich selbst eine Frage stellte, deren Antwort sie längst kannte und nur nicht wahrhaben wollte. »Sie wachen über uns, weißt du? Wenn du ihre Sprache verstehst, dann verraten sie dir so viel. Sie sagen dir, wohin du gehen musst, um nach Hause zu kommen. Sie sagen dir, wann die Saat ausgebracht werden muss und wann es Zeit ist, die Ernte einzuholen. Sie verraten dir, ob der nächste Winter hart oder mild wird, der nächste Sommer trocken oder kalt, ob der Schnee früh fällt und die Flüsse Hochwasser führen, wenn das Frühjahr kommt. Alle Antworten sind dort oben zu finden, Arianrhod. Wir müssen nur lernen, die richtigen Fragen zu stellen.«
Und ganz plötzlich begriff sie, wie wenig sie in Wahrheit über ihre Mutter wusste. Sie hatte geglaubt, alles über sie zu wissen, spätestens seit ihrem Gespräch auf der Waldlichtung, als sie vom Untergang ihrer Heimat und ihrer verzweifelten Flucht erfahren hatte, und in gewissem Sinn stimmte das sogar - sie wusste so unendlich viel mehr über ihre Mutter als irgendein anderer Mensch auf der Welt, vermutlich sogar mehr als Dragosz - und zugleich wusste sie rein gar nichts von ihr. Arris bewusste Erinnerungen reichten vielleicht sieben oder acht Sommer zurück, und sie wurden dünner und schemenhafter, je weiter sie zurückreichten, doch das Leben ihrer Mutter hatte nicht in jener Zeit begonnen, nicht einmal erst dann, als sie aus ihrer Heimat geflohen oder als sie, ihre Tochter, zur Welt gekommen war.
Es war dieser Augenblick, in dem Arri zum ersten Mal und mit erschütternder Wucht klar wurde, dass die Frau, die nun neben ihr stand und ihre Mutter war - und der sie nicht nur ihr Leben verdankte (und das gleich zweimal), nein, alles, was sie wusste, was sie war und was sie vielleicht irgendwann einmal werden würde -, nicht sehr viel mit der Leandriis zu tun hatte, die sie einst gewesen war. Mit ihrer Flucht aus ihrer sterbenden Heimat hatte sie nicht nur ihren Namen abgelegt und all ihr weltliches Hab und Gut verloren, ihre Familie, ihr Zuhause, sondern wortwörtlich ihr Leben. Ein kalter Schauer rann über Arris Rücken, als sie noch einmal an den sonderbaren Gesang zurückdachte, der sie hierher gelockt hatte. So fremd und vollkommen anders, wie diese Worte in ihren Ohren geklungen hatten, so vollkommen fremd und anders musste ihr Leben gewesen sein, das sie vor dem Untergang ihrer Heimat geführt hatte. Vielleicht dachte sie nicht einmal wie die Menschen hier. Vielleicht nicht einmal so wie sie.
Als hätte sie die Trauer gespürt, die Arri mit einem Mal ergriffen hatte, riss Lea den Blick vom Himmel los und drehte sich nicht nur ganz zu ihr um, sondern ließ sich leicht in die Hocke sinken, sodass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Und als sie weitersprach, bewiesen ihre Worte, dass sie ihre Gedanken, wenn schon nicht gelesen, so doch ziemlich genau erraten hatte.
»Ich werde dich diese Sprache nicht lehren, Arianrhod«, sagte sie, »denn sie ist so tot wie die Götter, die sie einst gesprochen haben. So tot wie unsere Vergangenheit. Und ich werde auch keine weiteren Fragen über meine Heimat und mein früheres Leben beantworten. Die Vergangenheit ist tot, und keine Macht der Welt kann sie zurückbringen. Du musst nach vorn schauen, hörst du? Du gewinnst nichts dabei, einer Zeit nachzutrauern, die nie wieder kommen wird und die du niemals erlebt hast.« Ohne die Hand von Arris Schulter zu nehmen oder ihren Blick loszulassen, griff sie mit der anderen Hand hinter sich und zog das Schwert aus dem Boden. Sie hielt Arri den verzierten Griff so dicht vor das Gesicht, dass sie zurückgeprallt wäre, hätte Leas andere Hand sie nicht zugleich so festgehalten.
»Du musst mir etwas versprechen, Arianrhod«, sagte sie, und in ihrer Stimme war plötzlich ein Klang, der Arri schaudern ließ. Sie versuchte abermals und mit nun schon deutlich mehr als sanfter Gewalt, sich loszureißen, doch der Griff von Leas so zart erscheinenden Händen war so hart wie das Zaubermetall, aus dem ihr Schwert geschmiedet war. Ihr Blick wurde bohrend, und schließlich nickte Arri zögernd.
»Ich habe dich schon einmal darum gebeten, aber ich weiß, dass du es damals wahrscheinlich nicht verstanden hast. Das konntest du gar nicht. Aber jetzt meine ich es bitter ernst, Arianrhod. Ich weiß nicht, was morgen geschieht, oder am Tag danach. Doch was immer es ist, du musst mir eines versprechen. Wenn du dich zwischen mir und diesem Schwert entscheiden musst, Arianrhod, dann wähle das Schwert. Es ist alles, was zwischen dir und einem Leben in Barbarei und Schrecken steht.«
Sie ließ Arris Schulter los, richtete sich auf und forderte sie zugleich auf, nach dem Schwert zu greifen. Arri zögerte, doch ihre Mutter wiederholte die Geste so heftig, dass sie diesmal zum Befehl wurde, und sie streckte zögernd die Hand aus und schloss die Finger um den verzierten Griff der Waffe. Das Schwert kam ihr schwerer vor als bisher, als ginge etwas Lautlos-Bedrohliches von ihm aus, das sie in all den Jahren zuvor noch nie bemerkt hatte. Plötzlich war sie sich sicher, dass diese Klinge viel größeres Unheil anzurichten vermochte als Fleisch zu zerschneiden und Knochen zu zertrümmern. Der grüne Stein, aus dem der goldverzierte Knauf geschnitzt war, fing einen Spritzer aus silberfarbenem Sternenlicht ein und schien für ein Lidzucken wie unter einem kalten, inneren Feuer aufzuleuchten, und währenddessen hatte Arri den völlig verrückten Gedanken, dass dieses Schwert tatsächlich von einem unheimlichen, düsteren Leben erfüllt sein mochte und auf diese Weise auf ihre Gedanken antwortete. Dann erlosch das Schimmern, das vermutlich ohnehin nur in ihrer Phantasie existiert hatte, und zurück blieb ein Gefühl tiefer, vollkommener Verwirrung.
»Wirst du mir das versprechen?«, fragte Lea noch einmal.
Arri starrte sie nur weiter verstört an. Wäre die Situation nicht so unheimlich und schrecklich verdreht zugleich gewesen, hätte sie möglicherweise laut aufgelacht. War ihre Mutter verrückt geworden? Sie erwartete im Ernst von ihr, dass sie sich für ein Stück lebloses Metall entschied, wenn sie vor diese Wahl gestellt wurde? Das war verrückt!
»Nein«, sagte sie.
Für die Dauer eines Herzschlags verfinsterte sich Leas Gesicht. Ihre alte Ungeduld war wieder da, und Arri sah genau, wie dicht sie davor stand, die Beherrschung zu verlieren und sie einfach anzufahren, wie sie es oft tat, wenn Arri nicht sofort gehorchte oder irgendetwas nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit erledigte. Dann aber zwang sie sich mit einer sichtbaren Anstrengung zu einem Lächeln. »Vielleicht hast du ja sogar Recht. Ich kann so etwas schwerlich von dir verlangen, wenn du nicht weißt, warum.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte eine ganze Weile wortlos in den Himmel hinauf, als erwarte sie, dort oben Rat zu finden oder vielleicht auch eine Antwort auf all die Fragen, die sie vielleicht quälten. Dann straffte sie mit einem lautlosen Seufzen die Schultern, trat einen halben Schritt zurück und nahm Arri das Schwert wieder aus der Hand. »Der kommende Winter wird sehr mild werden. Und die Schneeschmelze im nächsten Jahr sehr früh einsetzen. Aber Eis und Schnee werden zurückkehren, spät im Frühjahr, und mit großer Kraft.«