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Ihre Sorgen waren jedoch überflüssig. Sie traf nicht. Ihre Mutter duckte sich im allerletzten Moment und sprang zugleich einen halben Schritt zurück; der Stock schnitt mit einem pfeifenden Geräusch dort durch die Luft, wo sie eigentlich stehen sollte. Der Schwung ihres eigenen Schlages riss Arri nach vorn, sodass sie um ihr Gleichgewicht kämpfen musste. Als sie sich schließlich gefangen hatte, stand ihre Mutter wieder genau da, wo sie zuvor gewesen war, und bedachte sie mit einem eindeutig mitleidigen Blick. »Das war schon besser. Aber nicht gut genug. Versuch es noch einmal.«

Und das tat Arri. Sie schlug noch einmal zu und dann noch einmal und noch einmal, und ohne es selbst zu merken, legte sie immer mehr Kraft in ihre Hiebe und wurde dabei auch immer schneller. Nach dem fünften oder sechsten Schlag, der ins Leere ging, versuchte sie nicht nur tatsächlich ihre Mutter zu treffen, sondern spürte auch eine wachsende Wut in sich aufsteigen, die ihr noch mehr Kraft verlieh. Sie schlug jetzt nicht mehr nur nach ihrer Schulter, sondern nach ihrer Hüfte, ihrem Arm, einmal sogar nach ihren Waden - damit hätte sie sie beinahe erwischt, denn dieser Angriff kam offensichtlich vollkommen unerwartet, aber eben nur beinahe -, und versuchte am Ende sogar, mit dem Stock nach ihr zu stechen. Ihre Mutter wich jedem Angriff mit einer spielerischen Leichtigkeit aus, die Arri noch mehr ärgerte, und als wäre das alles noch nicht genug, begann sie schließlich sogar zu lachen.

»Das war gar nicht so schlecht«, sagte sie, als Arri endlich innehielt und den Stock sinken ließ. Sie war völlig erschöpft. Ihr Atem raste, und der Stock in ihrer Hand kam ihr plötzlich so schwer vor, dass sie alle Mühe hatte, ihn überhaupt noch zu halten.

»So«, keuchte sie atemlos, »aber ich habe dich nicht getroffen.«

»Und weißt du auch, warum?« Obwohl sich Lea mehr und deutlich hektischer bewegt hatte als Arri, ging ihr Atem nicht einmal schneller.

»Nein«, antwortete Arri, schüttelte den Kopf und verbesserte sich: »Oder doch, ja. Du hast nicht still gehalten.«

Wieder lachte ihre Mutter, aber diesmal klang es nicht abfällig. »Das wäre auch äußerst dumm von mir gewesen, oder?«

»Aber was tun wir hier eigentlich?«, fragte Arri. »Glaubst du etwa, ich müsste bei nächster Gelegenheit mit einem Stock auf Nor losgehen?«

»Ich hoffe bei allen Göttern, dass es nie zu einer Auseinandersetzung zwischen dir und Nor kommen wird«, sagte ihre Mutter ernst. »Und trotzdem ist es an der Zeit, dir das Kämpfen beizubringen. Fürs Erste zeige ich dir, wie du verhinderst, dass dir jemand wehtut.«

»Und später?«

»Zeige ich dir, wie man anderen wehtut. Aber das hat Zeit. Noch ist kein Geruch nach Schnee in der Luft.« Sie hob auffordernd die Hände. »Versuch es noch einmal. Diesmal werde ich mich nicht bewegen.«

3

Obwohl sie sich beeilt hatten, war die Dämmerung nicht nur bereits angebrochen, als sie ihre Hütte wieder erreichten, sondern schon fast vorbei. Nicht mehr lange, und die Sonne würde über dem Horizont auftauchen und die Dunkelheit vertreiben, die die Menschen hier mehr fürchteten als alles andere. Arris Mutter hatte sich schon oft über die Dorfbewohner lustig gemacht, die glaubten, der Sonnenwagen müsse Tag für Tag von dem riesigen, vom Boden aus unsichtbaren Pferd Trund mühsam über das Firmament gezogen werden, und dass es jederzeit geschehen könnte, dass das Pferd lahmte oder vollständig aus dem Tritt kam und es dann für ewige Zeiten finster bliebe. Arri war sich nicht sicher, ob dies wirklich nur dummes Gerede war. Auch sie hatte in den langen Wintern oft mit klopfendem Herzen darauf gewartet, dass die ersten zaghaften Sonnenstrahlen durch den Nebel brachen, und wenn das mehrere Tage hintereinander nicht geschehen war, die tiefe Furcht gespürt, die in ihr Herz Einzug gehalten hatte, während das Dorf wie in einem Todesschlaf dagelegen hatte.

Im Augenblick war es jedoch nicht nötig, sich Sorgen um den Sonnenwagen zu machen. Es herrschte bereits ein trübes Zwielicht, Nebel stieg vom Boden auf und griff wie mit grauen Geisterfingern nach ihren Beinen, und nur ein einzelner Vogel war schon wach genug, um dem bevorstehenden Tag ein verfrühtes Willkommen entgegenzurufen; ein Laut, der Arri sonderbar verloren und traurig erschien. Sie zitterte vor Kälte am ganzen Leib, denn die dünne Bluse, die sie mittlerweile wieder übergestreift hatte, klebte jetzt schweißnass an ihrer Haut und bot ihr keinen Schutz vor der Kälte, sondern schien sie nur noch zusätzlich auszukühlen, und der Nebel tat ein Übriges, um ihr das Gefühl zu geben, durch pure Feuchtigkeit zu waten.

Arri hatte während des gesamten Weges keinen Laut der Klage von sich gegeben, und indem sie die Kiefer so fest aufeinander presste, dass es schon wehtat, gelang es ihr sogar, nicht mit den Zähnen zu klappern. Dennoch schien ihrer Mutter ihr Zustand nicht zu entgehen, und obwohl auch sie während des gesamten Rückwegs geschwiegen hatte, zog sie Arri, kaum dass sie die Hütte betreten hatten, kurzerhand Bluse und Rock aus und steckte sie unter das warme Bärenfell. Arri protestierte schwach, wenn auch eigentlich nur, weil sie das Gefühl hatte, es tun zu müssen, rollte sich dann aber so eng in die warme Decke ein, wie sie nur konnte. Ihre Mutter bedachte sie mit einem Blick, in dem sich echte Sorge spiegelte, doch als Arri diesen Blick falsch deutete und die Decke wieder zurückschlagen wollte, um aufzustehen, schüttelte sie heftig den Kopf. »Bleib liegen. Wenigstens so lange, bis dir wieder warm ist. Du bist vollkommen durchgefroren. Es tut mir Leid. Es ist meine Schuld. Ich habe ganz vergessen, wie kalt es jetzt morgens noch ist. Ganz anders als...«

Sie sprach nicht weiter. Ein seltsames Flackern erschien in ihrem Blick und erlosch beinahe ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Vielleicht hatte Arri es sich auch nur eingebildet. Ihre Zähne klapperten jetzt wirklich, und obwohl sie die Knie an den Leib gezogen und sich so eng in das Bärenfell eingewickelt hatte, wie es überhaupt nur ging, zitterte sie vor Kälte am ganzen Leib. Bevor sie sich auf den Rückweg von der Lichtung gemacht hatten, hatten sie ausgiebig von dem eiskalten, klaren Wasser aus der Quelle getrunken, die neben ihr entsprang, doch in ihrem Mund war trotzdem ein schlechter Geschmack. Sie würde Fieber bekommen, das spürte sie.

»Aber es ist schon spät«, widersprach sie trotzdem und auch jetzt nicht aus Überzeugung, sondern abermals aus dem Gefühl heraus, es tun zu müssen. Ihre Mutter bestand sonst unerbittlich darauf, dass sie mit dem ersten wirklichen Licht des Tages aufstand, selbst im Winter, wenn es nicht unbedingt etwas zu tun gab und sie sich manchmal so sehr gewünscht hätte, nur noch eine kleine Weile unter dem kuschelig warmen Fell liegen zu bleiben. »Ich muss aufstehen und...«

»Heute nicht«, unterbrach sie ihre Mutter. »Wenigstens nicht sofort. Ich mache dir einen Sud aus Kräutern, damit du nicht krank wirst. Bis er fertig ist, kannst du noch liegen bleiben und dich aufwärmen.«

Arri hütete sich, ihrer ersten Regung nachzugeben und zu widersprechen. Sie gab ganz im Gegenteil endlich den Kampf gegen ihre Augenlider auf, die plötzlich unerträglich schwer zu werden schienen. Sie fror noch immer erbärmlich, spürte aber jetzt, wie die Wärme ganz allmählich in ihren Körper zurückströmte, und beschloss, die unerwartete Großzügigkeit ihrer Mutter auszunutzen und sich möglicherweise sogar noch ein paar Augenblicke Schlaf zu stehlen, bis der wärmende Kräutersud zubereitet war.

Sosehr sie den Sommer mit seiner Wärme und seinen langen Tagen genoss, sosehr hasste sie die allzu kurzen Nächte, in denen sie so wenig Schlaf bekam. Und diese Nacht war nicht nur deutlich kürzer als alle anderen gewesen; die Zeit, die sie zusätzlich wach gelegen war, hatte sie auch überaus angestrengt. Und als wäre das alles noch nicht genug, spürte sie nun jeden einzelnen Kratzer, jeden einzelnen blauen Fleck und jede einzelne Prellung, die sie bei ihrer ersten Unterweisung davongetragen hatte, mit quälender Intensität. Sie sollte ihre Mutter nicht nach einem Trank gegen das Fieber, sondern lieber nach einer Salbe gegen blaue Flecke fragen.