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Mit diesem Gedanken schlief sie ein und erwachte erst, als helles Sonnenlicht durch ihre geschlossenen Lider drang und so heftig in ihren Augen kitzelte, dass sie niesen musste. Unwillkürlich hob sie die Hand vor das Gesicht - eine weitere Eigentümlichkeit, auf die ihre Mutter beharrte und die ihr schon so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass sie sie nicht einmal mehr wahrnahm, obwohl sie ihren Sinn niemals eingesehen hatte; niemand im Dorf tat so etwas -, nieste noch einmal und noch heftiger, fuhr dann mit einer erschrockenen Bewegung hoch und riss die Augen auf. Helles Sonnenlicht erfüllte das Haus. Es war warm, und als sie erschrocken den Kopf in Richtung der Helligkeit wandte, musste sie die Augen zusammenkneifen, denn die Sonne schien genau durch das nach Süden hin offene Guckloch hindurch. Das bedeutete, dass es fast Mittag war. Sie hatte verschlafen! Ihre Mutter würde ihr tagelang Vorhaltungen machen und...

»Bleib noch einen Moment liegen«, drang Leas Stimme in ihre Gedanken. »Ich hole Wasser, damit du dich waschen kannst.«

Überrascht riss Arri den Blick vom Guckloch los und sah gerade noch die Gestalt ihrer Mutter hinter dem Muschelvorhang verschwinden. Sie war ihr nicht böse, dass sie verschlafen hatte? Arri war vollkommen verwirrt. So etwas war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, vor drei oder vier Sommern, als sie wirklich krank gewesen war und tagelang dagelegen und mit einem schweren Fieber gerungen hatte. Hinterher hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass sie um ein Haar gestorben wäre. Aber heute war sie nicht krank. In ihrem Mund war immer noch ein schlechter Geschmack, und sie hatte tatsächlich leichtes Fieber, aber es war nicht schlimm. Als sie sich noch weiter unter ihrer Decke aufrichtete, biss sie zwar die Zähne zusammen, denn sie hatte das Gefühl, den allerschlimmsten Muskelkater ihres ganzen Lebens zu haben, aber nichts davon hätte ihre Mutter unter gewöhnlichen Umständen als Grund anerkannt, bis Mittag im Bett liegen zu bleiben und zu schlafen. Arris Verwirrung wuchs ins Unermessliche.

Vorsichtig, weil ihr jede Bewegung Unbill und manche sogar wirkliche Schmerzen bereitete, setzte sie sich noch weiter auf, streifte die Decke ab und bemerkte erst in diesem Moment Rock und Bluse, die ordentlich zusammengelegt unmittelbar neben der Grasmatratze auf dem Boden lagen. Ihre Mutter musste sie gewaschen und zum Trocknen aufgehängt haben, während sie schlief, denn sie rochen gut und waren nur noch ein bisschen feucht, wie Arri bemerkte, als sie mit der Hand darüber strich. Nach kurzem Zögern schlüpfte sie in den Rock und zog die Bluse darüber, bevor sie den Gürtel anlegte und den Dorn durch die Gürtelscheibe schob, und sie kroch auch nicht wieder unter das Bärenfell zurück, sondern nahm mit untergeschlagenen Beinen auf der Grasmatratze Platz.

Ein sachter, aber durchaus angenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Ihre Mutter hatte Suppe gekocht, und auch das überraschte sie. Sie liebte Suppe, vor allem, wenn ihre Mutter sie nach dem Rezept aus ihrer alten Heimat zubereitete, mit ordentlich Gemüse und Wurzeln darin und - wann immer die Bauern Schlachttag oder die Jäger Jagdglück gehabt hatten und ihrer Mutter noch etwas schuldeten - mit einer überaus großzügig bemessenen Portion Fleisch.

Aber sie hatten vom vergangenen Abend noch genug Fladenbrot und Fisch übrig, sodass Arri niemals auch nur auf die Idee gekommen wäre, heute könnte es irgendetwas anderes zu essen geben. Wenn ihre Mutter etwas mehr hasste als einen knurrenden Magen und Hunger, wie sie ihn in jedem Winter, aber mitunter auch in anderen Jahreszeiten litten, dann war es Verschwendung. Und was war überhaupt gestern Nacht geschehen? Einen Moment lang fragte sich Arri ganz ernsthaft, ob sie ihren Ausflug zur Quelle und das, was sie dort getan hatten, vielleicht nur geträumt hatte.

Ihre Mutter kam zurück. Sie trug eine Wasserschale aus zweifach gebranntem Ton in der einen Hand und in der anderen den kostbaren kupfernen Kessel, aus dem es sichtbar dampfte. Wortlos stellte sie den Suppentopf gerade ein winzig kleines Stück außerhalb von Arris Reichweite auf den Boden, platzierte die Wasserschale direkt vor ihr und machte eine stumme, auffordernde Geste. Arri reagierte mit einem ebenso stummen, vorwurfsvollen Blick, der von ihrer Mutter natürlich ohne die allermindeste Wirkung abprallte, gab dann aber auf und schöpfte sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, um sich zu waschen. Erst als sie fertig war und ihre noch nicht einmal ganz trockene Bluse schon wieder zu einem gut Teil durchnässt hatte, zog ihre Mutter die Waschschüssel zurück, reichte ihr den hölzernen Löffel und machte eine auffordernde Geste. »Iss.«

Das musste man Arri nicht zweimal sagen. Es war bereits Mittag. Die vergangene Nacht war anstrengend gewesen, und sie spürte schon nach dem ersten Löffel, wie hungrig sie tatsächlich war. Sie langte kräftig zu und bemerkte überhaupt erst, nachdem sie eine ganze Weile gegessen hatte, dass ihre Mutter ein kleines Stück weiter auf den Knien neben ihr saß und keinen Finger rührte, um ebenfalls zuzugreifen. Arri warf ihr einen fragenden Blick zu und erntete ein Kopfschütteln und den Anflug eines milden Lächelns als Antwort. »Ich habe schon gegessen. Nimm ruhig, so viel du willst.«

Das war so ungewöhnlich, dass Arri tatsächlich für einen Moment mit dem Essen innehielt und zuerst ihrer Mutter und dann dem Inhalt des Topfes einen schrägen Blick zuwarf. Der bauchige Kessel war nur zu einem kleinen Teil gefüllt; vielleicht eine halbe Hand breit über dem Boden, aber die Suppe war dick und kräftig, und es schwammen nicht nur Wurzeln und Knollen, sondern auch jede Menge köstlich schmeckender Fleischbrocken darin. Eine Portion wie diese zu essen hätte ihre Mutter ihr gewöhnlich niemals gestattet.

Arri beschloss, vorsichtshalber keine Frage zu stellen, sondern die Gunst des Augenblicks zu nutzen und den gesamten Topf zu leeren, wie schwer es ihr auch fallen sollte. Nach gestern Abend war dies das zweite Mal, dass ihre Mutter sich so ungewöhnlich großzügig zeigte, und selbstverständlich würde sie sie nach dem Grund dieses unerwarteten Verhaltens fragen - aber erst, nachdem sie den Topf bis auf den letzten Rest geleert hatte. Sie tat wirklich ihr Bestes, aber es gelang ihr nicht. Immer wieder warf sie ihrer Mutter scheue Blicke zu und wartete darauf, dass sie ihr den Löffel wegnahm und sagte, dass es nun genug sei. Stattdessen musterte ihre Mutter sie mit einem mühsam zurückgehaltenen, belustigten Ausdruck in den Augen, der schließlich zu eindeutigem (wenn auch gutmütigem) Spott wurde, als Arri endlich den hölzernen Löffel sinken ließ und japsend erklärte, dass sie einfach nicht mehr könne.

»Und ich habe schon gedacht, du wirst überhaupt nicht mehr satt«, sagte sie spöttisch. Aber war das wirklich nur Spott in ihrer Stimme, fragte sich Arri, oder hörte sie da einen verkappten Vorwurf? »Wie fühlst du dich?«

»Gut«, sagte Arri - was nicht einmal wirklich gelogen war. Sie fühlte sich immer noch ein wenig benommen. Jede Bewegung bereitete ihr Mühe, und sie hatte auch noch ein ganz kleines bisschen Fieber, aber sie fühlte sich auf eine köstliche, nie gekannte Weise satt und zufrieden, und was gab es Wichtigeres, als keinen Hunger zu haben in einer Welt, in der es oft tagelang nichts zu essen gab?

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, als hätte sie das genaue Gegenteil gesagt. »Es tut mir Leid. Ich glaube, ich habe zu viel von dir verlangt. Bitte entschuldige.«

Falls sie vorgehabt hatte, Arris Verwirrung ins Unermessliche zu steigern, so war es ihr mit diesen Worten gelungen. Arri konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sich jemals bei ihr entschuldigt hatte, selbst wenn sie ihr wirklich Unrecht getan hatte, was selten genug vorkam. Sie zögerte eine ganze Weile, aber dann stellte sie die Frage, die ihr die ganze Zeit schon auf der Zunge brannte: »Und wie geht es jetzt weiter? Was werden wir machen, um...«