Arri schwieg auch dazu; nicht nur, weil sie sich noch viel zu elend und schwach fühlte, um sich auf einen Streit mit ihrer Mutter einzulassen, sondern auch, weil sie sich selbst sagte, dass sie sich reichlich undankbar benahm. Ganz gleich, welche Gründe Lea wirklich dafür gehabt haben mochte - sie hatte ihr eine sehr unangenehme Zeit erspart.
Was nichts daran änderte, dass es immer noch mindestens zwei Fragen gab, die ihre Mutter ihr bisher ganz bewusst nicht beantwortet hatte. Doch statt sie jetzt - sie spürte, dass es der falscheste aller nur denkbaren Augenblicke gewesen wäre - anzusprechen, glitt sie nur ein kleines Stück auf der Bank von ihr weg und sah dann lange und nachdenklich an sich herab. Auch ihre linke Hand war verbunden, wenn auch nicht so dick wie die rechte, sodass sie zumindest die Finger ein wenig bewegen konnte, und sie spürte weitere, zum Teil zwickende Verbände unter ihren Kleidern. Ihre Mutter hatte ihren Rock und ihre Bluse geflickt, und wenn man bedachte, dass sie es vermutlich in großer Hast getan hatte, war das Ergebnis sogar erstaunlich gut. Dennoch verdüsterte sich Arris Gesicht beim Anblick des dünnen Lederriemens, der ihren Rock jetzt bis zum Saum hinab zusammenhielt, und vor allem bei der Erinnerung daran, wie dieser Riss zustande gekommen war. Und diesmal musste Lea sicherlich nicht über irgendwelche außergewöhnlichen Fähigkeiten verfügen, um ihre Gedanken zu lesen.
»Deine anderen Verletzungen sind nicht schlimm«, sagte sie unaufgefordert. Arri sah sie zweifelnd an, und Lea fuhr mit einem unechten Lachen fort, das kein bisschen überzeugend wirkte: »Es sind nur Schrammen und Kratzer, die verschwinden. Keine Sorge.«
»Der... der Krieger...«, begann Arri. Ihre Stimme versagte, aber Lea erriet, wie der Satz hätte weitergehen sollen. Vermutlich hatte sie die ganze Zeit darauf gewartet, dass ihre Tochter eine entsprechende Frage stellte.
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Angst. Er hat dich verletzt, aber es ist nicht schlimm.«
»Hat er...«, begann Arri, wurde aber erneut und von einem diesmal heftigeren Kopfschütteln unterbrochen. »Nein, das hat er nicht«, sagte Lea in verändertem und plötzlich - Arri konnte sich nicht erklären, warum, aber es war so - fast angriffslustigem Ton. »Mach dir keine Sorgen. Dein heiligstes Gut ist unversehrt.«
Arri war verwirrt. Für einen Moment konnte sie ihre Mutter nur hilflos ansehen. Es war nicht das erste Mal, dass Lea so scheinbar grundlos hitzig und abfällig reagierte, wenn sie über das sprachen, was doch ihren eigenen Worten zufolge eigentlich fast zu dem Schönsten im Leben einer Frau gehören sollte, und sie verstand dieses sonderbare Benehmen immer weniger, zumal in dieser Lage, wo ihre Mutter doch eigentlich erleichtert sein sollte.
»Bist du sicher?«, fragte Arri und verfluchte sich im selben Atemzug dafür, diese Frage überhaupt gestellt zu haben, denn in Leas Augen blitzte nun fast so etwas wie Wut auf, und ihre Hände schlossen sich fester um die Zügel, als zöge sie es vor, lieber sie zu zerquetschen statt etwas anderes. »Ja«, antwortete sie zornig. »Ich habe nachgesehen, wenn es dich beruhigt.«
Das beruhigte Arri nicht, es war ihr überaus peinlich. Und sie empfand auch keinerlei Erleichterung, wie ihre Mutter anzunehmen schien, sondern einfach nur ein tiefes Gefühl zwischen Scham und hilfloser Wut, von der sie nicht einmal genau sagen konnte, wem sie überhaupt galt. Zu einem gut Teil sicherlich dem Mann, der ihr das angetan hatte, aber zu einem anderen, völlig verdrehten Teil auch ihr selbst, da sie es überhaupt zugelassen hatte. Es war verrückt. Sie hätte nichts tun können. Sie hatte alles getan, was sie konnte, und dennoch war da eine dünne, aber beharrliche Stimme in ihren Gedanken, die darauf beharrte, dass es ihre Schuld sei.
»Glaubst du, dass Targan und seine Familie... dass sie es geschafft haben?«, fragte sie zögernd.
Ihre Mutter sah sie nicht an, sondern deutete nur ein unwilliges Schulterzucken an. »Wahrscheinlich nicht«, gestand sie nach einer Weile. »Als wir über den Hügelkamm gefahren sind, habe ich zurückgesehen. Das Haus stand lichterloh in Flammen. Ich hoffe, sie sind entkommen, aber ihr Haus...« Sie beendete den Satz mit einem traurigen Kopfschütteln und zwang sich schließlich mit sichtbarer Anstrengung, Arri anzublicken. »Aber jetzt bist du erst einmal an der Reihe, mir einiges zu erzählen, meinst du nicht?«
»Ich weiß nicht genau, was...«, begann Arri.
Lea unterbrach sie sofort und in scharfem Ton. »Bei allem Verständnis, Arianrhod - ich warte jetzt seit drei Tagen darauf zu erfahren, was überhaupt geschehen ist. Also rede endlich und bleib bei der Wahrheit, auch wenn sie dir unangenehm oder peinlich sein sollte.« Ein dünnes, verächtliches Lächeln huschte über ihre Lippen und verschwand wieder. »Wir sind allein, weißt du? Keiner ist hier, der dich hört, und ich verspreche dir, dass ich es niemandem verrate.«
»Es war... es war meine Schuld«, begann Arri stockend, nur um schon wieder unterbrochen zu werden.
»Unsinn! Hast du die Männer etwa zu Targans Haus geschickt, damit sie uns überfallen?«
»Nein. Aber ich habe nicht auf dich gehört. Du hast gesagt, ich soll oben im Zimmer bleiben. Hätte ich es getan, dann wäre das alles vielleicht nicht passiert.«
»Was?«, hakte ihre Mutter nach.
»Runa«, antwortete Arri, leise und ohne Lea anzusehen. Dennoch entging ihr nicht, wie plötzlich eine steile, missbilligende Falte zwischen den Brauen ihrer Mutter entstand, und sie fügte rasch und fast hastig hinzu: »Nein, es war nicht ihre Schuld. Sie ist heraufgekommen, um mich zu warnen. Sie hat die beiden Männer belauscht. Sie hatten irgendetwas vor.«
»Wie überraschend«, sagte Lea spöttisch. »Gut, dass sie es gemerkt hat. Ich wäre nie von selbst darauf gekommen.«
Arri ignorierte den abfälligen Ton in Leas Worten. »Sie wollte mich warnen, das war alles«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Es war meine Entscheidung, nach dir zu suchen.«
»Nach mir?« Lea wurde hellhörig. Arri überlegte, ob sie ihr sagen sollte, dass sie Dragosz und sie draußen belauscht hatte, entschied sich dann aber dagegen; auch wenn sie selbst nicht genau sagen konnte, warum. Stattdessen begann sie mit leiser, stockender Stimme zu berichten, wie es Runa und ihr ergangen war, nachdem sie das Haus verlassen und in die Mine geflüchtet waren. Als sie an der Stelle angekommen war, an der der Fremde Runa getötet hatte, versagte ihr die Stimme, und sie wartete darauf, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie kamen nicht. Ihre Augen begannen zu brennen, und in ihrer Kehle war mit einem Male ein bitterer Kloß, der sie am Atmen hinderte, doch ihre Augen blieben leer; sie weinte trockene Tränen.
Dann geschah etwas, das sie wirklich überraschte - obgleich es doch eigentlich das Natürlichste von der Welt sein sollte: Ihre Mutter ließ die Zügel los und legte ihr die Hand auf den Unterarm, und ein kurzes, aber sehr warmes Gefühl von Geborgenheit durchströmte Arri; etwas, das sie viel zu selten erlebt hatte und das auch jetzt nur Augenblicke anhielt, bevor Lea die Hand so hastig zurückzog, als hätte sie sich selbst bei etwas Verbotenem ertappt. »Es tut mir Leid, Arianrhod. Wirklich. Runa war... ein gutes Kind.« Sie griff wieder mit beiden Händen nach den Zügeln und deutete ein Schulterzucken an. »Ein sehr freundliches Mädchen, jedenfalls...«
»So?«, fragte Arri. »Ich hatte eher das Gefühl, dass sie mich nicht leiden konnte.«
Lea lachte leise. »Wer kann schon eine Konkurrentin leiden?« Arri sah sie verständnislos an. »Runa war ungefähr in deinem Alter«, erklärte ihre Mutter. »In diesem Alter ist jedes andere Mädchen ein Feind - noch dazu, wenn es so hübsch ist wie du.«