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Ohne ein Wort zu sagen, stand ihre Mutter auf, nahm ihr behutsam das Schwert aus der Hand und trug es zu seinem Platz an der Wand zurück. »Wenn du irgendwann einmal vor der Wahl stehst, dieses Schwert zu retten oder mein Leben«, sagte sie, »dann entscheide dich für das Schwert.«

Das war so verrückt, dass Arri im ersten Moment fast sicher war, sich verhört zu haben. Aber dann drehte sich ihre Mutter zu ihr um, und was sie in ihren Augen las, fegte jeden Zweifel davon. Sie hatte es ganz genau so gemeint, und es war ihr bitter ernst damit.

»Aber warum?«, murmelte sie hilflos.

»Ich erwarte nicht, dass du es jetzt schon verstehst. Du wirst alles erfahren, bis deine Ausbildung abgeschlossen ist.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nor fordert meine Entscheidung zwar bis zum ersten Schnee, aber er wird sie auch keinen Tag früher bekommen. Uns bleibt also noch etwas Zeit, keine Sorge.«

Zeit wofür?, fragte sich Arri. Etwa, sich in Gedanken schon einmal mit dem Hungertod anzufreunden? Dass ihre Mutter - auch vor ihr - Geheimnisse hatte, das war inzwischen keine neue Erkenntnis mehr für sie. Aber allmählich wurde ihr klar, dass diese Geheimnisse wohl unendlich viel größer waren, als sie bisher auch nur angenommen hatte.

»Und... was geschieht, wenn der erste Schnee früher fällt als gewöhnlich?«, fragte sie stockend. »Wirst du ihm dann das Schwert geben - und mich... mich irgendeinem dummen Kerl als Zugabe?«

»Nein, ich denke ja gar nicht daran.« Lea zögerte, bevor sie weitersprach. »Ich weiß mich meiner Haut zu wehren, aber Nors Streitmacht wäre auch ich nicht gewachsen. Zumindest nicht mit der Waffe in der Hand.« Plötzlich erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie blinzelte Arri verschwörerisch zu. »Mach dir keine Sorgen. So lange er nicht weiß, wo unser Geheimnis wirklich verborgen ist, kann er uns nichts anhaben. Ich bin sicher, ich kann ihn noch länger hinhalten als bis zum Wintereinbruch, wenn es sein muss.«

Jetzt hatte sie zum allerersten Mal unser Geheimnis gesagt, dachte Arri, und der kleine Unterschied gab ihr den Mut, eine Frage zu stellen, die ihr sonst niemals über die Lippen gekommen wäre. »Und wo ist es verborgen?«

Ihre Mutter schüttelte lachend den Kopf. »So lange du nicht weißt, wo es ist, kann er es auch nicht aus dir herauspressen.« Sie schnitt Arri mit einer knappen Handbewegung das Wort ab, als diese eine weitere Frage stellen wollte. »Genug jetzt. Für einen Tag hast du schon fast zu viel erfahren. Mit neuem Wissen ist es wie mit Essen, weißt du? Allzu viel auf einmal davon, und dir wird schlecht.«

Dieser Meinung war Arri ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil fand sie, dass es sich genau umgekehrt verhielt. Ihr Hunger schien mit jedem Bissen, den ihre Mutter ihr hinwarf, noch zuzunehmen. »Ich habe Nors Krieger gestern gesehen«, sagte sie.

»Ich weiß«, antwortete Lea. »Ich war dabei.«

Arri schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Nicht hier oben in der Hütte. Später, als ich das Feuer auf der Sommerkochstelle anmachen sollte. Er stand hinter dem Holunder und hat mich beobachtet.«

Leas Gesicht verfinsterte sich. »Hat er etwas gesagt?«

»Nein. Er hat mich nur ganz merkwürdig angestarrt.«

»Mehr möchte ich ihm auch nicht geraten haben«, sagte Lea düster. »Nor hat nicht nur einen, er hat gleich zwei Krieger mitgebracht. Als ich heute Morgen im Dorf war, habe ich sie mit Sarn und ein paar anderen zusammenstehen sehen.«

Arri dachte an die unheimliche Begegnung mit Sarn am Steinkreis, die ihr jetzt, mit etwas Abstand, fast wie ein ferner Traum vorkam. »Vielleicht planen sie das Jagd-Ernte-Fest«, sagte sie leise. »Immerhin ist Sarn der Schamane.«

»Und mindestens genauso närrisch wie Nor«, versetzte ihre Mutter. »Wenn du die beiden zusammen in einen Sack stopfst und mit einem Stock darauf schlägst, dann triffst du ganz bestimmt immer den Richtigen.« Sie winkte ab, als Arri etwas dazu sagen wollte. »Lass es gut sein, Arri. Du hast noch einiges zu tun. Der Regenwasservorrat ist fast aufgebraucht, und die Pflanzen in deinem Garten brauchen frisches Wasser, wenn sie nicht in der Sonne verdorren sollen.«

»Wasser?« Arri blickte missmutig auf die Schale, in der sie sich vor dem Essen das Gesicht und die Hände gewaschen hatte. »Ich müsste nicht einmal halb so oft zum Fluss gehen, wenn wir das Wasser dazu benutzten, wofür es da ist: zum Wässern«, nörgelte sie. »Stattdessen verschwenden wir unendlich viel Wasser mit Waschen. Niemand im Dorf wäscht sich so oft. Das ist verrückt. Es ist nicht einmal gesund.«

»Wer sagt das?«, fragte Lea in leicht belustigten Ton.

»Alle«, behauptete Arri.

»Alle?«, vergewisserte sich ihre Mutter. Das spöttische Funkeln in ihren Augen nahm noch zu. »Du meinst, alle deine Freunde? Sprichst du jetzt von denen, die ständig Grind und Schorf im Gesicht haben und auf deren Köpfen mehr Läuse zu finden sind als Haare, oder von denen, die so übel riechen, dass man gut daran tut, immer den Wind im Rücken zu haben, wenn man mit ihnen spricht?«

Arri blickte sie finster an, aber es war natürlich zu spät. Sie verfluchte sich selbst in Gedanken dafür, überhaupt davon angefangen zu haben, denn wenn ihre Mutter einmal Gefallen an einem bestimmten Thema gefunden hatte, dann pflegte sie so schnell nicht wieder damit aufzuhören.

»Vielleicht meinst du ja auch diejenigen«, fuhr sie fort, »die ständig zu mir kommen und sich einen Kräutertee oder einen Sud aus Pilzen geben lassen, weil sie Bauchgrimmen haben oder einen hässlichen Ausschlag, der so juckt, dass sie sich die Haut vom Leib kratzen. Ist dir so etwas schon einmal passiert?«

Widerwillig schüttelte Arri den Kopf, und obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war, antwortete sie in trotzigem Ton: »Nein. Aber das liegt bestimmt nicht daran, dass ich mich so oft wasche.«

»Es liegt an demselben Grund«, antwortete Lea, »aus dem wir auch von Tellern essen und Fleisch und Fisch nicht roh verspeisen, und aus dem ich deine Kleider jeden dritten Tag wasche, ob sie nun schmutzig sind oder nicht.«

»Und was soll das für ein Grund sein?«, erkundigte sich Arri missmutig.

»Man nennt es Zivilisation«, antwortete ihre Mutter spöttisch.

»Aha«, sagte Arri. Ihre Mutter hatte dieses Wort schon mehrmals gebraucht, wenn auch nie im direkten Gespräch mit ihr, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, was es bedeutete. Dennoch fiel ihr ein Unterschied auf, denn die wenigen Male, da sie es vorher gehört hatte, hatte immer ein sonderbarer Unterton von Trauer in Leas Stimme mitgeschwungen, als spräche sie über etwas, was sie vor langer Zeit unwiderruflich verloren hatte. Nun glaubte sie beinahe so etwas wie Hoffnung in ihrer Stimme zu hören. »Ich nehme an, du wirst mir später erklären, was es bedeutet. Irgendwann, noch bevor der Winter kommt und der erste Schnee fällt.«

»Ich hoffe, das wird dann nicht mehr nötig sein.« Ihre Mutter winkte erneut ungeduldig, und Arri begriff, dass der seltene Moment der Langmut vorbei war. Wortlos stand sie auf und wandte sich zum Ausgang. Ihre Mutter hatte den großen Tonkrug, den sie zum Wasserholen verwendete, schon unten an der Stiege bereitgestellt, und als Arri ihn hochhob, verzog sie schon einmal vorbeugend das Gesicht, wobei sie daran dachte, wie schwer er auf dem Rückweg sein würde, wenn er randvoll mit Wasser wäre.

Ihr Protest, was ihren täglichen Verbrauch an Wasser anging, war durchaus ernst gemeint gewesen, und das nicht nur in einer Beziehung. Sie verbrauchten nicht nur sehr viel mehr Wasser als alle anderen im Dorf, von allen Häusern der Ansiedlung lag das ihre auch am weitesten vom Fluss entfernt. Der Weg, den Hügel hinauf und an der anderen Seite des Dorfes wieder hinunter zum Flussufer, war zwar kein mühsamer, aber auf dem Rückweg würde sie einen Krug mit sich schleppen, der fast so schwer war wie sie selbst, falls sie ihn ganz voll machte - oder immerhin halb so schwer, falls sie sich entschloss, den Weg zweimal zu gehen. Wenn das die viel gepriesene Zivilisation ihrer Mutter war, dachte sie missmutig, dann konnte sie gern darauf verzichten.