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»Hübsch?«, wiederholte Arri. Lea wollte sie auf den Arm nehmen. »Ich bin nicht hübsch. Ich bin hässlich. Genau wie...« Sie brach mitten im Satz ab und biss sich auf die Unterlippe, aber ihre Mutter reagierte ganz anders, als sie erwartet hätte. Statt beleidigt zu sein oder sie gar zu schelten, lächelte sie kurz und führte den angefangenen Satz an ihrer Stelle zu Ende: »So wie ich, meinst du?«

»Nein«, sagte Arri hastig. »Es ist nur...«

»... das, was Sarn und Nor jedem erzählen, der es hören will, seit wir hierher gekommen sind; und jedem, der es nicht will, übrigens auch. Aber nur, weil sie es immer wieder sagen, muss es dadurch nicht auch gleich die Wahrheit sein.«

»Wie meinst du das?«, fragte Arri.

Ihre Mutter warf ihr einen sonderbaren, langen Blick zu, bevor sie antwortete. »Ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, wie dich die Männer aus dem Dorf ansehen - oder mich?« Sie beantwortete ihre eigene Frage mit einem Kopfschütteln. »Du bist nicht hässlich, Arianrhod, genauso wenig wie ich. Wir sehen nur anders aus als diese Menschen hier, das ist alles. Runa hat das sofort erkannt. Wärest du wirklich so hässlich, wie du selbst glaubst, dann wäre sie wahrscheinlich ganz nett und zuvorkommend zu dir gewesen.«

»Du meinst, dass jeder, der freundlich zu uns ist, es in Wahrheit schlecht mit uns meint?«, fragte Arri.

Lea seufzte übertrieben. »Musst du eigentlich jedes Wort verdrehen, das ich sage?«

»Selbstverständlich«, antwortete Arri ernst. »Ich bin deine Tochter.«

»Ja, ganz zweifelsohne«, sagte Lea säuerlich. Aber in ihren Augen blitzte es schelmisch, und für einen Moment fühlte Arri trotz allem, was geschehen war, ein befreiendes Lachen in sich aufsteigen.

Aber der Moment hielt nicht lange an. Die Erinnerungen waren zu stark, und der Schmerz saß noch zu tief.

»Und?«, fragte ihre Mutter schließlich. »Was ist dann geschehen? Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst, aber oft ist eine Sache leichter zu ertragen, wenn man darüber spricht, glaub mir.«

Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Arri. Sie zögerte, aber dann erzählte sie zu Ende. Es fiel ihr leichter, als sie erwartet hatte; die Erinnerung tat weh (und das durchaus in körperlichem Sinne), aber die Erleichterung, die ihre Mutter ihr versprochen hatte, stellte sich tatsächlich schon während des Redens ein. Zumindest ein Teil der absonderlichen Schuld, die sie noch immer bei der Erinnerung an die schreckliche Begegnung mit dem Krieger empfand, war verschwunden, als hätte sie sich diese wortwörtlich von der Seele geredet. »Ich war ganz sicher, dass er tot ist«, schloss sie. »Bitte glaub mir. Ich... ich wusste nicht, dass er noch lebt und mir folgen könnte, sonst wäre ich nie...«

»Was?«, unterbrach sie ihre Mutter. »Weggelaufen?« Sie schüttelte fast zornig den Kopf. »Was hättest du getan? Wärst du dageblieben und hättest dich umbringen lassen? Nur, damit das Feuer nicht auf das Haus übergreift?« Sie schnitt Arri mit einer wütenden Bewegung das Wort ab, das sie gar nicht hatte ergreifen wollen. »Du konntest nicht wissen, dass so etwas passiert! Niemand hätte das wissen können! Verdammt, ich habe dem Kerl das Schwert in die Brust gestoßen, und er ist immer noch weiter auf mich losgegangen!«

»Ich hätte trotzdem nicht...«

»Was?«, unterbrach Lea sie scharf. »Um dein Leben kämpfen sollen? Rede keinen Unsinn! Niemand an deiner Stelle hätte anders gehandelt! Du konntest nicht ahnen, dass er noch einmal aufsteht!«

»Ich begreife es auch nicht«, murmelte Arri. Doch es klang in ihren Ohren nur wie eine Ausrede, und nicht einmal wie eine gute.

Ihre Mutter starrte einen Moment lang ins Leere, bevor sie abermals ein Schulterzucken andeutete. »Nor verabreicht seinen Kriegern einen ganz besonderen Pilzsud«, sagte sie schließlich. »Ich war bisher nicht sicher, aber ich habe... Gerüchte gehört.«

»Gerüchte?«

»Rahn hat einmal etwas in dieser Art erzählt«, antwortete Lea. »Ich habe es nicht ernst genommen... das übliche angeberische Gerede. Dass die Krieger aus Goseg unbesiegbar sind und keinen Schmerz und keine Erschöpfung kennen...« Ein neuerliches, fast verlegen wirkendes Achselzucken. »Vielleicht war es doch mehr als Angeberei.«

»Aber ist denn das überhaupt möglich?«, fragte Arri zweifelnd.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es hier möglich ist«, antwortete Lea, »aber ja, es ist denkbar. Auch ich kenne eine besondere Art von Pilzen, die ganz anders sind als die, mit deren berauschender Wirkung Sarn seine Zeremonien unterstützt. Schon wenn du sie kaust, gerätst du in einen Zustand, in dem dir alles gleich ist. Du spürst noch Schmerzen, aber sie sind dir vollkommen egal.« Sie sah Arri an. »Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«

»Und du glaubst, dass Nor diese Pilze auch kennt?«

»Es müssen nicht diese Pilze sein«, antwortete Lea. »Aber sie wachsen auch hier. Ich habe sie selbst schon... gesehen.«

Arri war ziemlich sicher, dass sie etwas anderes hatte sagen wollen, beließ es aber dabei. »Aber wenn das so ist, warum nehmen seine Krieger diese Pilze dann nicht immer?«, fragte sie. »Sein Heer wäre unbesiegbar.«

»Ja«, bestätigte ihre Mutter. »Zumindest einmal.«

»Wie meinst du das?«

»Nur sehr wenig im Leben ist umsonst, Arianrhod«, antwortete Lea. »Es ist wahr - wenn du diese Pilze nimmst, bist du zehnmal so stark wie sonst, und es gibt nicht viel, was dich aufhalten kann. Aber die meisten sterben, wenn die Wirkung nachlässt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Arri impulsiv. »Ich meine: Dann hätten sie es doch nicht genommen!«

»Wenn sie es wüssten, nicht«, bestätigte Lea. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass Nor seinen Kriegern etwas von dieser Nebenwirkung erzählt hat, aber es ist auch nicht gesagt, dass es tatsächlich jene Pilze waren. Es gibt eine Menge Pflanzenextrakte, die eine ähnliche Wirkung haben, und vielleicht war es auch nur Zufall. Wer weiß - vielleicht war der Kerl einfach nur ganz besonders zäh; oder einfach zu dumm, um zu begreifen, dass er eigentlich schon tot war. So oder so: Du hast dir nichts vorzuwerfen. Selbst wenn du es gewusst hättest... ist dir nicht aufgefallen, wie schnell sich das Feuer ausgebreitet hat?«

Arri nickte nur. Worauf wollte ihre Mutter hinaus?

»Targan war ein Dummkopf!«, behauptete Lea. »Da war irgendetwas in diesem Lagerraum hinter der Tür, das wie Zunder gebrannt hat. So etwas lagert man nicht im Haus; schon gar nicht in einem Haus, in dem andere direkt daneben mit offenem Feuer hantieren! So etwas ist bodenlos leichtsinnig!«

Und sicherlich hatte sie auch damit Recht - aber das änderte rein gar nichts daran, dass sich Leas Worte für Arri mehr und mehr nach dem anhörten, was sie waren: dem fast schon verzweifelten Bemühen, eine Entschuldigung zu finden. Sie hatte Recht mit jedem Wort, aber das schien es eher noch schlimmer zu machen. »Wir hätten ihnen trotzdem helfen müssen«, sagte sie leise.

»Das haben wir aber nicht«, antwortete Lea fast sanft - und dann brachte sie den Wagen mit einem Ruck zum Stehen und fuhr so abrupt herum, dass Arri erschrocken zusammenfuhr und hastig so weit von ihr wegrutschte, wie es die schmale Bank zuließ. »Verdammt, was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Ihnen helfen? Auch wenn ich genau wusste, dass es sinnlos ist? Bist du noch nicht schwer genug verletzt worden?«

»Aber ich...«, begann Arri.

Lea schien sie gar nicht zu hören. »Nur, falls es dich interessiert, Arianrhod«, fuhr sie in so scharfem Ton fort, dass sie kaum noch einen Deut davon entfernt war, wirklich zu schreien, »du hast in den beiden letzten Tagen nicht einfach nur geschlafen! Du wärst um ein Haar gestorben! Was, wenn ich auch verletzt worden wäre? Vielleicht so schlimm, dass ich mich nicht hätte um dich kümmern können? Wer hätte dann deine Wunden versorgt? Hast du dich das schon einmal gefragt?«