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»Erschrick nicht«, sagte eine leise Stimme hinter ihr.

Selbstverständlich bewirkten die beiden Worte genau das Gegenteil dessen, was sie sollten. Arri fuhr mit einem nur noch mühsam unterdrückten Schrei herum und starrte mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit, und die Stimme fuhr fort: »Ich bin es nur.«

Die Stimme gehörte ganz zweifelsfrei Dragosz, auch wenn Arri den dazugehörigen Körper immer noch nicht sehen konnte, doch obwohl er flüsterte und sich ganz offensichtlich auch bemühte, in möglichst ruhigem Ton zu sprechen, hörte sie auch zugleich, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Da war ein leises Zittern in seinen Worten, das bisher noch nie dagewesen war.

»Dragosz?«, murmelte sie.

Das Knacken eines brechenden Astes wiederholte sich, diesmal begleitet vom Knistern trockenen Laubes, das unter seinen Schritten zerkrümelte, dann löste sich ein massiger Schatten vom Waldrand und kam langsam auf sie zu. Eines der Pferde hob den Kopf und wieherte unruhig, und Dragosz strich ihm beiläufig mit der Hand über die Nüstern, während er daran vorbeiging. »Ja, ich bin es. Wo ist deine Mutter?«

»Ganz in der Nähe. Sie wollte sich nur umschauen, um sicherzugehen, dass auch niemand da ist.« Arri deutete ein Schulterzucken an. »Aber anscheinend war sie nicht gründlich genug.«

»Warum?« Dragosz kam nun näher und blieb in einem Abstand stehen, der gerade nicht ausreichte, um ihn in aller Deutlichkeit erkennen zu können, und Arri fragte sich, ob das Zufall war.

»Weil sie dich sonst bemerkt hätte«, antwortete sie.

Dragosz schüttelte den Kopf. Sie glaubte etwas wie ein leises Lachen zu hören. »Niemand bemerkt mich, wenn ich es nicht will. Wie geht es dir?«

»Gut«, behauptete Arri. »Wo kommst du jetzt her?«

»Wir waren verabredet«, antwortete Dragosz. »Deine Mutter und ich.« Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, das spürte Arri. Es war nicht nur seine Stimme. Auch an seiner Gestalt war irgendetwas nicht so, wie es sein sollte, obwohl sie sie nach wie vor nur als einen halb verschwommenen Schemen vor dem Hintergrund des Waldrandes erkennen konnte.

»Hier?«, fragte sie zweifelnd.

»Hat sie dir nicht gesagt, dass wir verabredet waren?«

»Doch. Aber nicht jetzt. Sie hat gesagt, dass du in ein paar Tagen ins Dorf kommst, um uns abzuholen.«

»Ich musste meine Pläne... ändern«, antwortete Dragosz. Seltsam, wie leicht man eine Lüge durchschauen konnte, wenn man das Gesicht seines Gegenübers nicht sah. Dragosz löste sich endlich von seinem Platz, kam näher und kletterte auf der anderen Seite des Wagens empor, aber mit Bewegungen, die Arri ebenso mühsam und umständlich vorkamen wie die, mit denen sie selbst gerade vom Kutschbock gestiegen war. Sie war jetzt sicher, dass mit ihm etwas nicht stimmte, und wären es nicht seine Bewegungen und sein sonderbar verkrüppelt aussehender Umriss gewesen, so hätte sie es gerochen. Er roch nach Schweiß, was an sich nichts Besonderes war - jeder, den sie kannte, roch so -, aber es war nicht der Schweiß schwerer Arbeit oder der Sommerhitze, sondern der saure Geruch eines überstandenen Fiebers, nur unzulänglich überdeckt von dem Kräuterduft, wie ihn die Verbände verströmten, die ihre Mutter aufzulegen pflegte.

Dragosz kam gebückt näher und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen neben sie sinken, und endlich war er nahe genug, um von einem bloßen Schatten zu einem Körper zu werden. Aus Arris Verdacht wurde Gewissheit. Dragosz’ Gesicht war so bleich wie frisch gefallener Schnee, das konnte sie trotz des schwachen Lichtes erkennen, und auf seiner Stirn glitzerte ein Netz aus zahllosen, winzigen Schweißtröpfchen. Seine Gestalt wirkte tatsächlich unförmig; er trug den linken Arm in einer Schlinge aus denselben groben Stricken, aus denen auch das Geschirr der Pferde geflochten war, und die Schulter unter dem schwarzen Fellmantel war so dick verbunden, dass er fast wie ein Buckliger aussah. Auf seinem Gesicht lag ein aufmunterndes Lächeln, aber Arri sah trotzdem, dass er all seine Willenskraft brauchte, um nicht am ganzen Leib zu zittern, so als hätte er Schüttelfrost. Wahrscheinlich hatte er welchen.

»Was ist passiert?«, fragte sie erschrocken. Dragosz zuckte nur - vorsichtig - mit der unverletzten Schulter; und Arri hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, brauchte sie im Grunde aber auch gar nicht. Sie hatte sie sich fast im gleichen Moment schon selbst gegeben, in dem sie die Frage ausgesprochen hatte.

In all dem Durcheinander hinter ihrer Stirn waren zumindest ein paar Erinnerungen, die ganz eindeutig nicht aus einem Fiebertraum stammten, und in einer davon spielten gedämpfte Schreie eine Rolle, das Klirren von Waffen und große Flecken von niedergetrampeltem Gras, das nass von noch nicht ganz eingetrocknetem Blut war.

»Nichts von Bedeutung«, beantwortete Dragosz ihre Frage mit einiger Verspätung. »Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Als ich gehört habe, was passiert ist, habe ich mir schwere Vorwürfe gemacht. Es tut mir Leid, dass ich nicht da war, um dich zu beschützen.«

»Du konntest es nicht, oder?«, sagte Arri mit einer entsprechenden Kopfbewegung auf seine verbundene Schulter, aber Dragosz machte nur ein noch finstereres Gesicht.

»Ich habe dir versprochen, auf dich und deine Mutter aufzupassen«, beharrte er. »Es spielt letzten Endes keine Rolle, warum man ein Versprechen bricht, so lange man es bricht. Es tut mir Leid.«

Welch ein Unsinn!, dachte Arri.

Dann musste sie über ihre eigenen Gedanken lächeln. Dragosz sprach im Grunde nur laut aus, was sie selbst gerade gedacht hatte; und vielleicht war das nicht einmal Zufall. Jetzt, wo er ihr so nahe war, konnte sie erkennen, dass er sich in keinem besseren Zustand befand als sie, und eigentlich sogar in einem schlimmeren. Vielleicht, überlegte sie ernsthaft, führten ähnliche Verletzungen auch zu ähnlichen Verwirrungen des Denkens.

»Das warst du, in dieser Nacht, nicht wahr?«, fragte sie.

Dragosz sah sie fragend - aber nicht sehr überzeugend - an, und Arri fuhr mit einer erklärenden Geste auf seine verletzte Schulter fort: »Du hast die drei Krieger angegriffen, die uns aufgelauert haben.«

Dragosz zögerte. Seine Augen schimmerten wie nasse schwarze Steine, und irgendetwas in seinem Blick... änderte sich. Arri konnte nicht sagen, was, aber sie war nicht sicher, ob es ihr gefiel. Ganz und gar nicht.

»Nun ja«, erwiderte er. »Man könnte es so nennen.«

»Und wie nennst du es?«, fragte Arri.

Der sonderbare Ausdruck in Dragosz’ Augen blieb, aber da war jetzt plötzlich auch noch etwas anderes; etwas, das ihr einen durchaus nicht unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ und das sie ebenso genoss, wie sie es fast schuldbewusst von sich schob. Sie war viel zu verwirrt und aufgewühlt, um das Gefühl benennen zu können (oder auch nur zu wollen), aber sie spürte doch, dass es etwas Verbotenes war. »Ich fürchte, ich habe sie unterschätzt«, gestand Dragosz mit unerwarteter Offenheit ein.

»Nors Männer?«

Dragosz nickte und zuckte gleichzeitig unglücklich mit den Schultern - zumindest wollte er es, brach die Bewegung dann aber schon im Ansatz und mit einer Grimasse sowie einem schmerzhaften Verziehen der Lippen wieder ab. »Ich dachte, ich könnte sie überraschen. In Wahrheit haben sie mich überrascht.«

»Und dich angegriffen?«, fragte Arri.

»Ja. Sofort und ohne auch nur zu fragen, wer ich bin oder welche Absichten ich habe.«

Das hörte sich ganz nach Nors Kriegern an, dachte Arri. Sie wartete vergeblich darauf, dass Dragosz von sich aus weitersprach, und als er es nicht tat, warf sie ihm einen auffordernden Blick zu, auf den er zwar reagierte, aber auch das erst mit einiger Verspätung. Arri hatte plötzlich das Gefühl, dass er es nicht tat, um das Gespräch in die Länge zu ziehen oder ihr auszuweichen, sondern dass ihm das Reden viel Mühe bereitete. »Ich konnte ihnen entkommen. Aber nur mit Mühe und Not. Sie haben mich verletzt. Anscheinend bin ich doch kein so guter Beschützer, wie ich geglaubt habe.«