»Du warst allein gegen drei«, antwortete Arri. »Du hast einen von ihnen so schwer verwundet, dass er in der nächsten Nacht gestorben ist.« Dragosz wollte widersprechen, doch Arri hob rasch die Hand und schüttelte entschieden den Kopf, bevor sie mit leicht erhobener Stimme fortfuhr: »Ich bin kein Krieger, und ich verstehe auch bestimmt nicht so viel vom Kämpfen wie meine Mutter oder gar du - aber einer gegen drei, das erscheint mir kein sehr ausgewogenes Verhältnis. Die Krieger von Goseg sind berüchtigt für ihre Rücksichtslosigkeit und ihre Stärke. Nur die wenigsten Männer hätten diesen Kampf überlebt - und noch dazu einen von ihnen tödlich verwundet.«
Einen Herzschlag lang sah Dragosz sie auf eine sehr sonderbare Weise an. Dann schüttelte er den Kopf, und ein sehr warmes, fast väterliches Lächeln erschien auf seinen Lippen und erlosch dann wieder. »Gleich wirst du mir erzählen, dass ich diesen Kampf eigentlich gewonnen habe.«
Arri nickte. »Genau genommen ist es auch so. Du lebst, und sie sind tot. Das könnte man einen Sieg nennen.«
Dragosz lachte leise. »Weißt du eigentlich, wie sehr du deiner Mutter ähnelst, Arianrhod?«
Das wusste Arri sehr gut, sie wusste nur nicht, was diese Bemerkung bedeutete, ausgerechnet jetzt. »Warum habt ihr mir nicht gesagt, wie schlimm es um dich steht?«
Dragosz sah sie verwirrt und vielleicht mit einer Spur von Misstrauen in den Augen an, und Arri fügte mit einer erklärenden Geste hinzu: »An dem Abend, als du mit meiner Mutter gesprochen hast, draußen bei der Mine.«
»Was dir passiert ist, tut mir aufrichtig Leid«, sagte Dragosz. »Hätte ich auch nur gewusst, dass du dort draußen bist...«
Arri unterbrach ihn. »Du wusstest es aber nicht. Außerdem war ich ganz allein schuld. Meine Mutter hatte mir befohlen, im Haus zu bleiben. Hätte ich auf sie gehört, wäre vielleicht gar nichts passiert.« Dragosz hatte ihre Frage nicht beantwortet, das war ihr keineswegs entgangen. Und auch der ebenso verwirrte wie leicht misstrauische Ausdruck stand noch immer in seinen Augen. Mehr denn je hatte sie plötzlich das Gefühl, dass er aus einem ganz bestimmten Grund gerade jetzt und gerade hier aufgetaucht war, aber nun nicht so recht zu wissen schien, wie er anfangen sollte. Indem sie ihm Vorwürfe machte - oder auch nur etwas sagte, was er als Vorwurf auslegen konnte -, gewiss nicht.
»Deine Mutter wollte dich nicht unnötig beunruhigen«, sagte er nach einer Weile nun doch. Er zuckte wieder mit den Schultern; diesmal aber sehr behutsam. »Sie hat mich vor Nors Kriegern gewarnt, aber ich fürchte, ich habe ihre Warnung trotz allem nicht ernst genug genommen. Dabei hätte ich es wissen müssen. Schließlich bin ich ihnen schon begegnet.«
Das war eine Neuigkeit für Arri, die sie im allerersten Moment überraschte; dann zog sie zweifelnd die Augenbrauen zusammen. »Du sprichst von Kron und seinen Brüdern?« Ihr Herz begann zu klopfen.
»Ich weiß nicht, wer Kron ist«, antwortete Dragosz. »Aber sie waren zu dritt, ja.« Er legte den Kopf schräg. »Du kennst diese Männer?«
»Wenn es dieselben sind, über die wir reden, ja. Du hast einen von ihnen erschlagen und den anderen schwer am Arm verletzt?«
Dragosz sagte nichts. Er nickte nur, aber sein Blick wirkte mit einem Mal sehr wach.
»Das waren keine Krieger aus Goseg«, sagte Arri.
»Keine...« Dragosz blinzelte verwirrt. »Aber deine Mutter hat mir gesagt, es wären Nors Männer gewesen.«
»Die drei waren Jäger. Männer aus unserem Dorf. Du musst sie falsch verstanden haben.«
Dragosz schwieg auch dazu, aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art, die eine Antwort im Grunde vollkommen überflüssig werden ließ. Er hatte sie weder falsch verstanden, noch hatte Lea sich irgendwie missverständlich ausgedrückt. Sie konnte seine Verwirrung spüren, aber auch eine Spur von Zorn, die er plötzlich empfand und nicht gänzlich unterdrücken konnte. »Darf ich dir eine Frage stellen?«, brach es aus ihr hervor.
»Welche Frage?« Dragosz sagte nicht ja.
»Grahl hat erzählt, du und deine Männer hättet sie völlig grundlos angegriffen«, begann Arri. »Warum habt ihr das getan?«
»Ich und...?« Dragosz schüttelte überrascht den Kopf. »Ich war allein. Und sie haben mich angegriffen, ohne Grund und ohne dass ich irgendetwas getan hätte. Genau wie die Männer vor drei Nächten.«
Arri hätte nicht sagen können, warum, aber sie glaubte Dragosz. Auch wenn sie ihn ja praktisch kaum kannte, meinte sie doch genug über ihn zu wissen, um sicher zu sein, dass er nicht log. Welchen Grund sollte er auch dafür haben?
Sie wollte etwas sagen, doch in diesem Moment hob Dragosz warnend die Hand und legte zugleich den Kopf auf die Seite, um mit geschlossenen Augen zu lauschen, und nur einen halben Atemzug später hörte Arri es auch: Leichte, fast - aber eben nur fast - lautlose Schritte näherten sich, und sie vernahm ein Rascheln wie von Stoff, der über trockenes Laub strich. Dragosz spannte sich, und seine unverletzte Hand glitt unter den Umhang, vermutlich, um nach einer Waffe zu tasten, die er dort trug, und nun war es Arri, die rasch die Hand hob und eine besänftigende Geste machte. Laut und mit weithin hörbarer Stimme sagte sie: »Du kannst ruhig herauskommen, Mutter. Es ist nur Dragosz.«
Dragosz sah sie verwirrt an. Für die Dauer von zwei oder drei Atemzügen wurde es vollkommen still, dann wiederholte sich das Rascheln, sie hörte das Brechen von Zweigen, und ohne sich umdrehen zu müssen, wusste sie, dass ihre Mutter hinter ihnen aus dem Unterholz heraustrat und mit schnellen Schritten näher kam. Dragosz’ Verwirrung nahm noch zu, aber dann wandte er sich halb um, um Lea entgegenzusehen, allerdings nicht, ohne Arri vorher einen kurzen, anerkennenden Blick zugeworfen zu haben. Oder war es etwas anderes?
»Was tust du hier?«, herrschte Lea Dragosz an; laut, unüberhörbar wütend und ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
»Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen«, antwortete Dragosz spöttisch. »Mir geht es übrigens schon wieder besser - nur, falls du es wissen wolltest.«
Verwirrt sah Arri zuerst ihre Mutter, dann Dragosz und schließlich wieder ihre Mutter an. Lea hatte das Schwert gezogen und funkelte Dragosz so wütend an, als könnte sie sich gerade noch beherrschen, sich nicht auf ihn zu stürzen. Seltsam - Arri konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Zorn ihrer Mutter mindestens ebenso sehr ihr selbst wie Dragosz galt, obwohl sie sich weder für das eine noch für das andere irgendeinen Grund vorstellen konnte.
Es verging noch eine kleine Weile, dann konnte sie regelrecht sehen, wie ihre Mutter sich innerlich zur Ordnung rief. Mit einem Ruck schob sie das Schwert wieder in die lederne Schlaufe an ihrem Gürtel, schlug in der gleichen Bewegung den Umhang zurück und schwang sich mit einem kraftvollen Satz auf den Wagen. Das ganze Gefährt erzitterte unter ihrem Aufprall, und die Pferde wieherten unruhig. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sich Lea vor Dragosz in die Hocke sinken, nestelte an seinem Umhang herum und streifte das Kleidungsstück dann mit einem Ruck ab. Dragosz biss die Zähne zusammen, konnte einen schmerzerfüllten Seufzer aber nicht ganz unterdrücken, und auch Arri riss erstaunt und erschrocken die Augen auf, als sie sah, wie unförmig die Schulter unter dem Umhang angeschwollen war. In den durchdringenden Geruch nach Heilkräutern, den der Verband bisher verströmt hatte, mischte sich etwas anderes, Schlimmeres.
Lea machte sich - Dragosz’ Reaktion nach zu schließen, alles andere als sanft - an seiner Schulter zu schaffen und schüttelte schließlich den Kopf. »Entweder du hast es darauf angelegt, dich umzubringen, oder du überschätzt meine Heilkräfte und hältst mich tatsächlich für eine Zauberin. Ich kann dir versichern, dass ich es nicht bin. Sprichst du unsere Sprache so schlecht, oder hast du alles vergessen, was ich dir gesagt habe?«