Выбрать главу

»Wohin gehst du?«, fragte Arri.

»Ich schaue mich um«, antwortete ihre Mutter. »Ich will nur sichergehen, dass wir während unseres romantischen Familienabends keinen unangemeldeten Besuch bekommen.«

»Aber...«, begann Arri, doch Dragosz legte ihr rasch die Hand auf die Schulter, und sie verstummte mitten im Satz. Es hätte auch keinen Sinn mehr gehabt, noch etwas zu sagen. Sie hörte erneut das Brechen von Zweigen und das Knistern von trockenem Laub unter schnellen, fast stampfenden Schritten, dann war ihre Mutter im Wald verschwunden. Hilflos blickte Arri ihr nach. Sie hatte ihre Mutter niemals für eine geduldige oder gar sanftmütige Frau gehalten, nun aber benahm sie sich eindeutig kindisch.

»Lass sie«, sagte Dragosz. »Sie wird schon wieder zur Besinnung kommen. Und vielleicht hat sie sogar Recht.«

»Womit?«, fragte Arri.

»Sich umzusehen«, antwortete er rasch. »Wir sind ein gutes Stück von eurem Dorf entfernt, aber derzeit ist es wohl besser, sicherzugehen.«

»Doch niemand weiß von diesem Ort.«

»So, wie auch niemand von euren Freunden gewusst hat?« Dragosz schüttelte abermals den Kopf, ließ sich neben ihr in die Hocke und gleich darauf erneut mit untergeschlagenen Beinen in eine erschöpft sitzende Haltung sinken; und das gewiss nicht nur, um auf gleicher Höhe mit ihr zu reden.

»Ich verstehe nicht, wie er davon wissen konnte«, gab Arri hilflos zurück. »Nicht einmal ich wusste, wohin wir fahren!«

»Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau, Arianrhod«, antwortete Dragosz. »Aber sie ist auch eine sehr starke Frau, und sie begeht den gleichen Fehler, den viele begehen, die um ihre Stärke wissen. Sie neigt dazu, ihre Gegner zu unterschätzen. Dieser Sarn mag der alte Narr sein, für den deine Mutter ihn hält, aber er ist ganz bestimmt kein Dummkopf. Ich an seiner Stelle hätte schon vor Jahren herausgefunden, wohin deine Mutter dann und wann verschwindet, um mit einem Wagen voller Schätze zurückzukehren.«

Arri sah ihn nur verwirrt an. Wahrscheinlich hatte er Recht. Aber das war es nicht, warum sie das Verhalten ihrer Mutter so irritierte. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie geschworen, dass Lea... eifersüchtig war.

Aber das war natürlich Unsinn.

»Woher kennst du meine Mutter?«, fragte sie nach einer Weile und noch immer in die Richtung blickend, in der Lea in der vollkommenen Schwärze der Nacht verschwunden war. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie diese Frage stellte, noch dazu ausgerechnet jetzt - vielleicht einfach nur, um das plötzlich immer unangenehmer werdende Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen -, aber für Dragosz schien sie nicht annähernd so harmlos zu sein, wie sie geglaubt hatte. Seine Hand, die noch immer (oder schon wieder? Sie wusste es nicht) auf ihrer Schulter lag, versteifte sich kurz - vielleicht nur für den zehnten Teil eines Atemzuges, aber dennoch lange genug, dass sie es merkte, und seine Stimme klang ein ganz kleines bisschen angespannt, als er antwortete.

»Warum?«

»Nur so«, behauptete Arri, was zugleich die Wahrheit wie auch eine Lüge war.

Dragosz zog den Arm zurück, hob die Schultern und ließ seine Hand dann erneut auf ihren Unterarm sinken; nur, dass seine Berührung jetzt irgendwie... anders war. Sie konnte nicht sagen wie, aber sie war auf sonderbare Weise angenehmer.

»Vielleicht solltest du deine Frage anders stellen«, sagte er. »Richtiger wäre mich zu fragen, wie ich das erste Zusammentreffen mit deiner Mutter überlebt habe.«

Arri sah ihn zweifelnd an. Sie erinnerte sich gut, wie sie Dragosz und ihre Mutter das erste Mal zusammen gesehen hatte. Nach Feindschaft hatte es irgendwie nicht ausgesehen; und eigentlich auch nicht nach einem Kampf auf Leben und Tod.

Dragosz grinste, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und wahrscheinlich hatte er es auch, auf eine gewisse Weise. »Es war zwei Tage nach meiner... Begegnung mit euren Männern. Die, die ich für Krieger aus Goseg gehalten habe.«

Das waren Worte, die Arri im Augenblick zwar hinnahm, sich aber ganz bewusst für später merkte, um noch einmal darüber nachzudenken. Da Dragosz offensichtlich auf eine Reaktion ihrerseits wartete, sah sie ihn offen an und nickte dann übertrieben, und Dragosz fuhr fort: »Weißt du, Arianrhod, ich war einfach nur neugierig.«

»Worauf?«

»Ich habe mich gefragt, was das für Menschen sind, die ihre Waffen ziehen und sofort angreifen, sobald sie einen Fremden sehen. Einfach so, ohne einen Grund, ohne eine Frage zu stellen, ohne...« Er suchte nach Worten.

»Ich verstehe«, sagte Arri, und das war sogar die Wahrheit. Sie kannte Grahl und seine Brüder gut genug, um Dragosz vorbehaltlos zu glauben - zumindest, was seine Schilderung des Zusammenstoßes mit den drei Jägern anging.

»Es war gar nicht einmal weit von hier«, fuhr er fort, und er klang dabei fast belustigt. Seine Hand lag noch immer auf ihrem Arm, aber sie war nun nicht mehr - ganz - still. Seine Finger strichen langsam über ihre Haut, und es war etwas an dieser Berührung, was sie fast unerträglich machte; aber auf eine vollkommen andere Art, als sie es jemals kennen gelernt hatte. Arri wollte den Arm schreiend zurückziehen und Dragosz am liebsten die andere Hand ins Gesicht schlagen; aber zugleich sehnte sie sich auch nach nichts mehr als danach, dass diese Berührung anhielt; und er vielleicht nicht nur ihr Handgelenk streichelte.

»Ganz plötzlich stand deine Mutter vor mir«, fuhr Dragosz fort. Er lächelte gequält. »Eine Frau. Eine wunderschöne Frau, verstehst du?«

»Nein«, antwortete Arri wahrheitsgemäß.

»Bei meinem Volk«, sagte Dragosz, »sind Frauen eben... Frauen.«

»Bei unserem auch«, erwiderte Arri trocken.

»Nicht so«, sagte Dragosz. »Kein Weib...«, war es Zufall, dachte Arri, dass er plötzlich dieses Wort gebrauchte?, »... unseres Volkes würde ein Schwert tragen. Deine Mutter hat ein Schwert getragen... und beim großen Donnergott, nicht nur als Zierrat. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte mich getötet.«

»Weil du überrascht warst?«, fragte Arri.

»Weil sie so gut war«, antwortete Dragosz mit einer verlegenen Grimasse. »Du hast Recht: Ich habe sie nicht ernst genommen. Im ersten Moment. Im zweiten war ich überrascht, und im dritten und all den Momenten danach hatte ich alle Hände voll damit zu tun, am Leben zu bleiben.« Er lachte. »Ist es wahr, dass deine Mutter früher Priesterin war?«

»Ja.«

»Dann möchte ich die Götter, denen sie gedient hat, nicht zu Feinden haben«, sagte Dragosz ernst. »Hast du deine Mutter jemals kämpfen sehen?«

Arri wollte den Kopf schütteln, aber dann erschien plötzlich ein Bild vor ihrem inneren Auge: Sie sah ihre Mutter und das Schwert, das plötzlich in ihrer Hand erschien und den Mann enthauptete, der Runa getötet hatte; so schnell, dass sie die Bewegung nicht einmal wirklich sah. Sie sagte nichts, aber dieses nichts war Dragosz offenbar Antwort genug.

»Sie hat mich besiegt«, gestand Dragosz rundheraus. »Zuerst habe ich sie unterschätzt, dann war ich überrascht, und dann hatte ich ihr Schwert an der Kehle.«

»Aber nicht sehr lange«, vermutete Arri.

»Länger als mir lieb war«, sagte Dragosz mit übertriebener Zerknirschung. »Vielleicht nur ein paar Augenblicke, aber sie sind nicht besonders lustig, wenn du ein Schwert an der Kehle hast und die Wärme spürst, mit der dein eigenes Blut an deinem Hals herunterläuft.«

»Aber sie hat dich nicht getötet«, bemerkte Arri überflüssigerweise.

»Viel hat allerdings nicht gefehlt.« Dragosz strich sich mit der freien Hand über die Kehle und verzog die Lippen, als reiche allein die Erinnerung aus, um ihn die Schwertklinge wieder spüren zu lassen. Seine andere Hand blieb weiter auf ihrem Arm liegen; oder auch nicht - seine Fingerspitzen strichen sanft und anscheinend beiläufig über ihre Haut, und eigentlich hätte die Berührung allmählich unangenehm werden müssen, denn seine Fingerspitzen waren rau und so hart wie altes Holz und strichen immer wieder über dieselbe Stelle, aber das genaue Gegenteil war der Fall.