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»Und wieso hat sie dich nicht getötet?«

»So genau weiß ich das selbst nicht«, gestand Dragosz. »Ich nehme an, ein einziges falsches Wort hätte genügt, und sie hätte es getan.« Er nahm endlich die Hand herunter - die von seinem Hals, nicht die von ihrem Arm - und lächelte erneut gequält. »Wahrscheinlich hat sie die Geschichte nicht geglaubt, die dieser...?«

»Grahl.«

»Grahl...«, Dragosz nickte, »... erzählt hat. Wäre es anders gewesen, wäre es vielleicht übel für mich ausgegangen.« Plötzlich grinste er. »Ich weiß gar nicht, warum ich dir das erzähle. Wenn meine Leute erfahren, dass ich von einer Frau besiegt worden bin, bin ich erledigt.«

»Du meinst, ich habe dich jetzt in der Hand?«, fragte Arri mit einem treuherzigen Blick.

»Ja«, seufzte Dragosz. »Dumm von mir.«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ihn Arri. »Ich werde dich nicht verraten - jedenfalls nicht, so lange du tust, was ich von dir verlange.«

»Wieso überrascht mich nicht, dass du das sagst?«, murrte Dragosz. Sein Gesicht verfinsterte sich, aber seine Fingerspitzen spielten weiter mit ihrem Handgelenk und schienen jetzt den Takt zu einem lautlosen Lied zu trommeln. »Habe ich schon erwähnt, dass du deiner Mutter sehr ähnlich bist?«

»Ein oder zwei Mal.« Plötzlich spürte Arri, wie kalt es wirklich geworden war. Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, und sie bekam eine Gänsehaut. Dragosz zog sie ein wenig dichter an sich heran und legte ihr einen Teil seines Umhangs über die Schulter, aber das wollte sie nicht. Fast erschrocken glitt sie wieder unter dem warmen Fell hervor, machte sich aber nicht aus seinem Griff los, sondern sah ihn nur einen Herzschlag lang verlegen an, ehe sie sich - sehr vorsichtig - gegen seine Schulter lehnte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, indem sie ihm so nahe kam, aber zugleich war es auch ein sehr angenehmes Gefühl. Sein Umhang war warm, und das Fell, aus dem er gemacht war, viel weicher, als sie seinem Aussehen nach vermutet hätte. Dragosz versuchte nicht noch einmal, sie unter seinen Umhang zu nehmen, legte ihr aber nun den Arm um die Schulter, um sie auf diese Weise wenigstens ein bisschen zu wärmen.

»Und weiter?«, fragte sie.

»Was - weiter?«

Als ob er das nicht wüsste! »Was ist weiter passiert«, fragte Arri, »nachdem dir meine Mutter nicht die Kehle durchgeschnitten hat?«

»Wir haben geredet«, antwortete Dragosz.

»Ja, das habe ich gesehen. Ich meine: Vorher. Bevor ihr geredet habt.«

Ganz kurz hatte sie das Gefühl, zu weit gegangen zu sein, denn obwohl Dragosz vollkommen reglos dasaß, schien er sich für einen Moment doch innerlich zu versteifen; als wäre etwas in ihm erloschen. Aber wenn, dann war es im nächsten Augenblick schon wieder da. Seine Finger begannen mit ihrem Haar zu spielen; ganz sacht nur, aber auf eine völlig andere Art, als sie sie kannte. Wieder lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken, doch sie war plötzlich nicht mehr sicher, ob er nur von der Kälte kam.

»Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht, Arri«, sagte er belustigt. Es war das erste Mal, dass er sie mit diesem Namen ansprach, statt sie Arianrhod zu nennen, und sie glaubte nicht, dass das Zufall war. »Oder dass deine Mutter einverstanden ist, wenn wir uns darüber unterhalten.«

»Dann haben wir eben jetzt zwei Geheimnisse«, antwortete Arri, ebenso ärgerlich darüber, dass er sie plötzlich wieder wie ein Kind behandelte, wie über die Tatsache, dass ihre Mutter ihm ihren Kindernamen überhaupt verraten hatte. »Und ich behalte das eine für mich, wenn du mir das andere verrätst.«

Dragosz schien dies nun nicht mehr lustig zu finden. Er sagte zwar nichts, aber seine Finger hörten auf, ihr Haar zu kringeln. Für eine Weile saßen sie einfach schweigend beieinander, und ohne dass Arri es auch nur bemerkte, kuschelte sie sich immer enger an seine Schulter und versuchte dabei, sich einzureden, dass es nur die Wärme seines Umhangs war, die sie spürte, und das sonderbare Gefühl in ihrem Inneren die Erleichterung, endlich einen Menschen getroffen zu haben, der nicht ihr Feind war und dem sie vorbehaltlos vertrauen konnte.

Dragosz’ Finger spielten wieder weiter mit ihrem Haar, und schließlich ließ Arri den Kopf zur Seite sinken und schmiegte ihre Wange gegen seine Hand. Für einen Moment erstarrte er, als hätte ihn diese Bewegung nicht nur völlig überrascht, sondern als wüsste er auch nicht genau, wie er damit umgehen sollte. Arri wollte sich schon wieder aufrichten und ein Stück weit von ihm wegrücken, denn um nichts auf der Welt wollte sie diesen kostbaren Moment zerstören oder ihn zu etwas machen, was er niemals sein durfte. Dann aber fuhren Dragosz’ Finger fort, mit ihrem Haar zu spielen, und streichelten dabei gleichzeitig ihr Gesicht.

Ein sanfter Schauer durchfuhr Arri. Sie gab den Widerstand gegen sich selbst auf und versuchte jetzt nicht mehr, sich einzureden, dass das, was sie fühlte, irgendetwas anderes war als das, was es nun einmal war, aber diese Erkenntnis erschien ihr sonderbar undramatisch; sie hatte erwartet, von Schuldgefühlen geplagt und von ihrem schlechtem Gewissen gequält zu werden, doch nichts von alledem war der Fall. Seine Umarmung vermittelte ihr eine Wärme, die ihr weder zustand noch, dass sie sie wirklich haben wollte - aber es war ein Gefühl, gegen das sie wehrlos war. Vielleicht, weil sie sich tief in sich selbst auch gar nicht dagegen wehren wollte.

Für die Dauer von fünf oder auch zehn schweren Herzschlägen blieb sie reglos und mit geschlossenen Augen so sitzen und erkundete das neue, verbotene Gefühl von Wärme und Verlangen, das sich in ihrem Schoß breitmachte und rasch nach ihrem Herzen griff, dann öffnete sie die Augen wieder und drehte langsam den Kopf so, dass Dragosz ihre Wange weiter streicheln, sie ihn zugleich aber auch ansehen konnte. Trotz der fast vollkommenen Dunkelheit erkannte sie sein Gesicht nun deutlicher und klarer als jemals zuvor, denn sie waren sich auch noch nie so nahe gewesen. Er war schmutzig. Der kalte Schweiß, der auf seinem Gesicht eingetrocknet war, und das bleiche Licht des Nachthimmels ließen ihn kränklich und müde aussehen, aber Arri erkannte trotzdem, dass er deutlich jünger war, als sie bisher angenommen hatte.

Das Fehlen eines wild wuchernden Bartes, das sein Gesicht so fremdartig und faszinierend zugleich erscheinen ließ, machte es ihr vollkommen unmöglich, sein Alter auch nur zu schätzen; dennoch war sie plötzlich sicher, dass er ihrem Alter weit näher war als dem ihrer Mutter. Und noch etwas bewirkte dieser Blick: Er machte ihre Frage nahezu überflüssig. Plötzlich wusste sie, warum ihre Mutter diesen Fremden nicht nur verschont, sondern sich auch mit ihm eingelassen hatte. Da war etwas in seinem Gesicht, vielleicht in seinen Augen, was sie auf eine unmöglich in Worte zu fassende Weise anzog. Vielleicht war es das Fremdartige an ihm, aber vielleicht war da auch noch mehr, und was immer es war - Arri war sicher, dass es ihrer Mutter ganz genau so ergangen sein musste.

Arri fragte sich im Stillen, was wohl geschehen wäre, hätte Dragosz zuerst sie und nicht ihre Mutter getroffen. »Wohin wirst du uns bringen?«, fragte sie laut.

Dragosz zögerte eine Antwort hinaus. Seine Finger streichelten weiter ihre Wange, fuhren nun aber auch sanft an ihrem Hals hinab und wieder herauf. »Zuerst einmal in unser Lager«, sagte er schließlich.

»Zuerst?«, fragte Arri. »Und... dann?«