»Wohin auch immer wir gehen.«
Das verstand Arri nicht. »Was soll das heißen - wohin auch immer ihr geht?«
»Mein Volk ist auf der Suche nach einer neuen Heimat«, erwiderte Dragosz. Seine Fingerspitzen streichelte jetzt ihren Nacken, was kitzelte, zugleich aber auch einen wohligen Schauer auslöste, der durch Arris ganzen Körper rann. »Ich weiß noch nicht, wohin uns das Schicksal und der Wille der Götter führen werden. Niemand weiß es.«
»Warum habt ihr eure alte Heimat verlassen?«, wollte Arri wissen. »Seid ihr vertrieben worden?«
Ein rasches, bitteres Lächeln huschte über Dragosz’ Lippen und erlosch ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. »Ja, so könnte man es nennen.«
»Was meinst du damit?« Arri richtete sich nun doch ein winziges Stück auf, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können. Dragosz’ Worte verwirrten sie, aber sie beunruhigten sie auch ein kleines bisschen. Immerhin hatte dieser Mann es zweimal mit drei Gegnern gleichzeitig aufgenommen und diese Kämpfe nicht nur überlebt, sondern auch noch seine Gegner verwundet und einen, Grahls älteren Bruder Ans, bei dem angeblichen Überfall durch eine feindliche Horde, die er in Wirklichkeit ganz allein gewesen war, erschlagen. Sie konnte sich keinen Feind vorstellen, der ein Volk zu besiegen vermochte, das über so mächtige Krieger verfügte.
»Die Götter waren gegen uns«, sagte Dragosz. »Einst waren wir ein sehr mächtiges und stolzes Volk. Wir waren viele, und wir mussten keinen Feind fürchten. Aber das ist lange her. Zu der Zeit, als ich noch ein Kind war, brachten unsere Jäger reiche Beute nach Hause, in den Wäldern gab es Früchte und Beeren und Wurzeln, so viel wir nur brauchten, und die Ernten waren gut und so reichlich, dass wir Handel mit unseren Nachbarn treiben konnten. Jedenfalls hat man es mir so erzählt. Aber dann wurden die Winter länger und die Sommer heißer. Das Korn begann auf den Feldern zu verdorren, bevor es eingebracht werden konnte, die Flüsse führten weniger Wasser und hatten weniger Fische, und das Wild wanderte fort. Wir konnten nicht bleiben. Viele sind gestorben, in den letzten Jahren, und noch mehr wären ihnen gefolgt, wären wir im Land unserer Vorfahren geblieben. Also suchen wir eine neue Heimat.« Er lächelte traurig. »Siehst du - so einfach ist das.«
Seine Worte berührten Arri auf eigenartige Weise. Auch wenn sich seine Geschichte im ersten Moment so vollkommen anders anhörte, so ähnelte sie doch der, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Sie beide hatten ihre Heimat verloren, und im Grunde war es gar kein so großer Unterschied, dass Leas Welt in einer einzigen Nacht und in Feuer und Sturm untergegangen war, während die, aus der Dragosz und die Seinen stammten, einen stillen und schleichenden Tod gestorben war. Sie beide waren Heimatlose auf dem Weg in eine Ungewisse Zukunft. Vielleicht war es ja das, dachte sie, was Dragosz und ihre Mutter verband. Aber wenn dem so war, dann galt es auch für sie, und jetzt, wo sie kurz davor waren, ihre Heimat endgültig zu verlassen, umso mehr.
»Liebst du meine Mutter?«, fragte sie mit einem Mal.
Dragosz’ Hand erstarrte in ihrem Nacken. Jetzt war sie zu weit gegangen. Aber der scharfe Verweis, auf den sie wartete, blieb aus. Dragosz sah sie nur durchdringend an. Seine Hand lag plötzlich schwer und fast kalt auf ihrem Nacken, aber er zog sie auch nicht zurück. »Warum fragst du das?«, meinte er schließlich.
»Weil sie meine Mutter ist«, antwortete Arri. »Ich will nicht, dass ihr wehgetan wird.«
»Unsinn«, sagte Dragosz hart. »Du glaubst doch nicht...« Er zog die Hand nun doch - fast erschrocken - zurück und räusperte sich unbehaglich. »Wenn du ein paar Jahre älter wärst, und vor allem nicht Leandriis’ Tochter, könntest du mir wahrscheinlich sogar gefallen, aber so...«
»So gefalle ich dir nicht?«
»Ich glaube, du weißt genau, was ich meine, Arri. Es gibt Dinge, die man tut, und Dinge, die man nicht tut.« Dragosz’ Blick wurde hart, aber er rührte trotzdem keinen Finger, um sie von sich wegzuschieben oder sie auch nur aus seiner Umarmung zu entlassen. Nach einigen weiteren Augenblicken ließ er die Hand sogar wieder auf ihre Schulter sinken.
»Ich wollte doch nur...«
»Ich weiß, was du wolltest«, unterbrach Dragosz sie barsch. »Ich...« Er brach ab, wirkte für einen Moment beinahe hilflos und rettete sich schließlich in ein leicht verunglücktes Lächeln. »Entschuldige. Vielleicht... war ich jetzt ein wenig zu heftig. Ich wollte dich nicht beleidigen. Du gefällst mir, wirklich. Du bist ein sehr hübsches Mädchen. Aber du bist auch Leandriis’ Tochter - und außerdem bin ich viel zu alt für dich. Ich könnte beinahe dein Vater sein.«
»Unsinn«, antwortete Arri. »So alt bist du noch nicht. Und selbst wenn: Nor hat eine Frau, die jünger ist als ich, und er ist alt genug, um mein Urgroßvater zu sein.«
»Nor? Der Hohepriester aus Goseg, von dem deine Mutter mir erzählt hat?«
Arri nickte, und Dragosz zog eine beleidigte Grimasse. »Vielen Dank, dass du mich mit dieser alten Krähe vergleichst.« Er lachte. »Würde es dir etwas ausmachen, das Thema zu wechseln?«
Wenn alles wirklich so war, wie er behauptete, dachte Arri, warum nahm er dann den Arm nicht von ihrer Schulter oder setzte sich wenigstens so hin, dass ihr Kopf nicht mehr an seiner Wange lag? Da war ein deutlicher Unterschied zwischen dem, was seine Worte ihr mitteilten, und dem, was sein Körper sagte. Arri lauschte in sich hinein. Das verzehrende Verlangen war so gründlich erloschen, als hätte es niemals existiert, und an seiner Stelle verspürte sie plötzlich eine mindestens ebenso große schmerzende Leere. Dann Zorn. Wieso zeigte er ihr etwas so Wundervolles, nur um es ihr sofort wieder wegzunehmen? Legte er es darauf an, sie zu quälen, oder war es nur irgendein grausames Spiel, wie es Erwachsene manchmal mit Kindern spielten? Verdammt, sie war kein Kind mehr, schon lange nicht mehr! Sie war eine erwachsene Frau, und er hatte kein Recht, so mit ihr umzuspringen!
»Also, wie ist es?«, fragte Dragosz. »Sind wir noch Freunde?« Noch, dachte Arri, würde bedeuten, dass sie es schon gewesen waren. Waren sie es? Sie sah ihn nur an.
Ihr Schweigen schien Dragosz’ Missfallen zu erwecken, denn auf seinem Gesicht erschien nun zum ersten Mal ein Ausdruck von echtem Unmut, doch gerade als er dazu ansetzen wollte weiterzureden, erklang wieder das Geräusch brechender Zweige, und schnelle Schritte näherten sich. Arri löste sich fast erschrocken aus Dragosz’ Arm und bewegte sich hastig ein kleines Stück weit von ihm weg, und auch Dragosz schob sich hastig mit dem Rücken an der hölzernen Wand in die Höhe. Als ihre Mutter den Wagen erreichte, saßen sie auf mehr als Armeslänge auseinander - aber sogar Arri fiel auf, dass Dragosz wie ein Mann aussah, der gerade sein Dorf um die Jagdbeute betrogen hatte. Und was sie selbst anging - sie war noch nie besonders erfolgreich darin gewesen, ihrer Mutter etwas vorzumachen.
Anscheinend war sie es auch jetzt nicht. Ihre Mutter setzte dazu an, über eines der großen Räder auf den Wagen zu klettern, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und blickte verwirrt von Arri zu Dragosz und wieder zurück. Eine tiefe, senkrechte Falte erschien wie hingezaubert zwischen ihren hellen Augenbrauen. »Was...«, fragte sie fast lauernd, »... was ist denn los?«
»Wir haben auf dich gewartet«, antwortete Arri. »Wo warst du so lange?«
Lea setzte zu einer zornigen Antwort an, beließ es dann aber bei einem Schulterzucken und schoss einen eisigen Blick in Dragosz’ Richtung ab, unter dem er regelrecht zusammenzuschrumpfen schien, bevor sie ihren Weg fortsetzte und vollends zu ihnen auf den Wagen hinaufstieg. »Ich habe mich umgesehen«, antwortete sie mit einiger Verspätung auf Arris Frage. »Es ist alles ruhig.«
»Hast du etwas anderes erwartet?«, fragte Dragosz.
»Nein«, erwiderte Lea. »Aber man kann nie wissen.« Sie schien noch mehr sagen zu wollen, schluckte es aber dann herunter und maß nun Arri mit einem langen, durchdringenden Blick, der ihr das Gefühl gab, von innen nach außen gekrempelt zu werden, auf dass ihre geheimsten Gedanken und Gefühle offenbar wurden. Arri fragte sich mit wachsendem Unbehagen, wie lange ihre Mutter wohl schon am Waldrand gestanden und Dragosz und sie belauscht hatte; und vor allem beobachtet.