Verstohlen versuchte sie, im Gesicht ihrer Mutter zu lesen, doch alles, was sie entdeckte, war ein vager Zorn, der niemandem im Besonderen zu gelten schien; aber das bedeutete nichts, denn seit einer Weile sah sie ihre Mutter eigentlich nur noch grimmig dreinblicken, als hätte sie dem ganzen Leben den Krieg erklärt. Vielleicht war es auch umgekehrt.
»Ich halte es trotzdem für besser, wenn ihr gleich mit mir kommt«, versuchte es Dragosz noch einmal. »Wenn du schon nicht zur Vernunft kommen willst, dann denk wenigstens an deine Tochter. Du hast gesehen, wozu Nors Krieger imstande sind.«
Lea fuhr mit einer zornigen Bewegung herum und duckte sich leicht, beinahe wie um sich auf ihn zu stürzen, beherrschte sich aber dann im allerletzten Moment doch und sagte in leisem, fast kühlem Ton: »Und sie haben gesehen, dass wir uns unserer Haut zu wehren wissen.«
Das war dumm, und das musste ihre Mutter auch selbst wissen, dachte Arri. Sie hatten pures Glück gehabt, das war alles. Sie konnte Dragosz ansehen, dass er Ähnliches dachte, vermutlich aber zu demselben Schluss kam wie sie, nämlich dem, dass jedes weitere Wort nur Zeitverschwendung war. Er deutete ein einseitiges Schulterzucken an und schwieg.
»Ich möchte kein Feuer machen«, fuhr Lea fort. »Wir sind zwar noch ein gutes Stück vom Dorf entfernt, aber ich will das Wagnis trotzdem nicht eingehen, dass jemand den Feuerschein sieht.« Sie machte eine flatternde Handbewegung auf die Decken und Fellbündel zu ihren Füßen. »Du kannst hier auf dem Wagen schlafen, das ist sicher und auch ein wenig wärmer. Arianrhod und ich schlafen vorne bei den Pferden.«
Dragosz blinzelte überrascht, und auch Arri sah ihre Mutter verständnislos an. Der Wagen war wahrhaftig groß genug für drei, und auch wenn sie das Schlimmste hinter sich hatte, so fühlte sie sich doch noch lange nicht wieder kräftig genug, um sich auf eine Nacht auf dem nackten, feuchtkalten Waldboden zu freuen. Lea hatte jedoch in einem Ton gesprochen, der keinen Widerspruch zuließ, und selbst wenn sich einer von ihnen dazu durchgerungen hätte, so hätte es wohl wenig Sinn gehabt, denn sie kletterte bereits wieder vom Wagen herab und winkte Arri dabei ungeduldig heran.
Wahrscheinlich hatte ihre Mutter sie doch beobachtet, dachte Arri. Und die Vorstellung, dass sie eifersüchtig auf ihre eigene Tochter sein könnte, erschien ihr wirklich nur im allerersten Moment völlig unfassbar - gerade so lange, wie sie brauchte, um sich einzugestehen, dass es ihr eben noch andersherum genauso ergangen war. Mit einem letzten, bedauernden Blick in Dragosz’ Gesicht stand sie auf und machte sich daran, ihrer Mutter zu folgen. Als sie dabei an ihm vorbeikam, raunte er ihr zu: »Vielleicht gelingt es dir ja, deine Mutter zur Vernunft zu bringen. Du musst es versuchen. Auf mich hört sie nicht, aber ihr seid in Gefahr, glaub mir.«
Als ob Lea ausgerechnet auf sie hören würde! Arri antwortete trotzdem mit einem angedeuteten Nicken, schon um ihn zu beruhigen, auch wenn sie kaum mit ihrer Mutter darüber sprechen würde. Umständlich folgte sie ihr. Ihre verbundene Hand behinderte sie so sehr, dass sie um ein Haar gefallen wäre, als sie vom Wagen herunterkletterte, und schon die wenigen Schritte hin zum Waldrand und der Stelle, an der ihre Mutter auf sie wartete, erschöpften sie spürbar. Bei dem bloßen Gedanken an den Marsch, der morgen vor ihnen lag, krampfte sich ihr schon der Magen zusammen.
Lea empfing sie mit einem Blick, der aus ihrer vagen Sorge endgültig Gewissheit machte: Sie hatte Dragosz und sie beobachtet. Zu ihrer Überraschung sparte sie sich jedoch jede entsprechende Bemerkung, sondern bedeutete ihr nur mit einer ebenso knappen wie ungeduldigen Geste, ihr weiter zu folgen. Sie entfernten sich ein gutes Dutzend Schritte vom Wagen, bevor sie eine Stelle erreichten, die vor Leas gestrengem Auge Gnade als Nachtlager fand; auch wenn Arri beim besten Willen nicht sagen konnte, was daran besser oder schlechter als an jedem einzelnen Flecken war, an dem sie bisher vorbeigekommen waren. Wortlos ließ sie sich ins Gras sinken, richtete sich dann noch einmal auf, um ihren Umhang abzustreifen, und breitete ihn wie eine Decke über Arri aus, als diese ihrem Beispiel folgte. Der Umhang war warm, und Arri schlang ihn instinktiv enger um sich, zugleich aber spürte sie auch, wie kalt die Nacht geworden war, und ihr schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, schüttelte Lea den Kopf, noch bevor sie auch nur ein einziges Wort sagen konnte. »Das ist schon gut. Die Kälte wird mir helfen, wach zu bleiben.«
»Wach zu bleiben?«, wiederholte Arri. »Warum?«
»Jemand muss schließlich auf euch beide aufpassen«, antwortete Lea mit einem ärgerlichen Kopfschütteln. »Nicht genug, dass ich nicht einmal genau weiß, wie ich dich in deinem Zustand zurück ins Dorf bringen soll, taucht jetzt auch noch dieses zu groß geratene Kind auf, das lieber stirbt, bevor es zugeben würde, dass auch seine Kräfte Grenzen kennen. Dieser Dummkopf.«
»Dragosz?«
»Siehst du hier sonst noch jemanden?«, fragte Lea ärgerlich. »Natürlich Dragosz! Ich dachte wirklich, er wäre klüger als all die anderen Narren. Aber am Ende ist er auch nur ein Mann.« Sie seufzte tief. »Und jetzt schlaf. Wir haben morgen einen anstrengenden Marsch vor uns, und du wirst jedes bisschen Kraft brauchen.«
»Und du?«, fragte Arri.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, erwiderte Lea. »Eine Nacht ohne Schlaf macht mir nichts aus. Und vielleicht ist es sogar ganz gut so. Ich habe über eine Menge Dinge nachzudenken.«
25
Dragosz war fort, als sie am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang erwachte. Arri hatte nicht besonders gut geschlafen; sie klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Irgendwie musste sich das nasse Gras, auf dem sie sich ausgestreckt hatte, im Laufe der Nacht in hartes Felsgestein verwandelt haben, denn ihr tat jeder einzelne Knochen weh. Außerdem hatte sie entsetzlichen Durst. Noch bevor sie die Augen öffnete, spürte sie, dass ihre Mutter nicht mehr neben ihr lag, und als sie es dann tat, sah sie, dass der Himmel über ihr noch schwarz war. Die Luft roch nach Schnee, obwohl es dafür eindeutig zu früh war, und die Wolken, die den Mond und den Großteil der Sterne verschlungen hatten, schienen so tief zu hängen, dass sie sicher war, sie mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können. Allerdings war sie nicht sicher, ob sie auch die Kraft aufbringen würde, den Arm auszustrecken. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schien verkrampft zu sein, aber vielleicht war sie auch einfach zu Eis gefroren.
Umständlich und sorgsam darauf bedacht, den doppelten Umhang, in den sie sich gewickelt hatte, ja nicht herunterrutschen zu lassen, weil sie dann vermutlich wirklich erfroren wäre, setzte sie sich auf, zog in derselben Bewegung die Knie an den Leib und lehnte sich mit Schultern und Rücken an den rauen Stamm des Baumes, unter dessen weit ausladender Krone Lea ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte. Erst dann drehte sie den Kopf nach links und rechts, um nach ihrer Mutter Ausschau zu halten. Sie sah sie nicht, aber irgendetwas stimmte nicht. Arri war immer noch zu benommen und schlaftrunken, um dem Gedanken sofort nachgehen zu können, aber sie spürte immerhin, dass mit dem Bild, das sich ihr bot, irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Es verging eine geraume Zeit, während der sie vergeblich versuchte, ihre Gedanken zu einer etwas schnelleren Gangart zu bewegen, aber schließlich wurde es ihr doch klar: Der Wagen war nicht mehr da.
Im allerersten Moment erschrak sie. Dann erinnerte sie sich an das, was ihre Mutter am vergangenen Abend zu Dragosz gesagt hatte - dass er den Wagen nehmen und damit zu seinen Leuten fahren sollte, während sie selbst und Arri die restliche Strecke bis zum Dorf zu Fuß zurücklegen würden. Anscheinend hatte Dragosz seine Pläne geändert und war schon während der Nacht losgefahren.