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Schon bei Tage war es in diesem Teil des Waldes niemals heller als während der Dämmerung, doch jetzt, in dieser noch dazu Sternen- und mondlosen Nacht, konnten sie nicht die Hand vor Augen sehen. Arri achtete streng darauf, niemals weiter als einen Schritt hinter ihrer Mutter zurückzufallen, und selbst so erkannte sie sie lediglich als Schemen, der sich nicht wirklich von seiner Umgebung abhob, sondern sich einzig durch seine Bewegung verriet. Dennoch hörte sie allerhöchstem zwei- oder dreimal, wie ihre Mutter gegen ein unerwartetes Hindernis prallte oder einen Fehltritt tat. Lea musste über das Sehvermögen einer Eule verfügen oder schlichtweg jeden Fußbreit Boden in diesem Wald kennen. Arri beneidete sie nicht darum, denn schon das Wenige, was sie von diesem unheimlichen Ort gesehen hatte, hatte ausgereicht, ihre Neugier auf den Rest ein für alle Mal zu stillen, aber sie war auch zugleich sehr froh, dass es so war. Allein wäre sie hier verloren gewesen.

Dennoch schien der Weg kein Ende zu nehmen. Ein- oder zweimal glaubte Arri sogar zu wissen, wo sie waren, wenn ihre Mutter einen besonders auffälligen Bogen schlug, der Boden unter ihnen auf eine bestimmte Art federte oder sie den ureigenen Geruch eines bestimmten Krautes, einer ganz besonderen Pflanze wahrnahm, aber jedes Mal war es gleich darauf so, als hätte sie die Orientierung noch gründlicher verloren. Was, flüsterte eine dünne, aber beharrliche Stimme irgendwo hinter ihren Gedanken, wenn Lea ihre Sicherheit nur spielte, um sie nicht zu beunruhigen, und sie sich in Wahrheit längst verirrt hatten und tiefer und tiefer in diesen verbotenen und ebenso geheimnisvollen wie gefährlichen Wald hineinliefen?

Vielleicht war ja das, was Sarn und die anderen Dorfbewohner sich über diesen Wald erzählten, gar nicht so falsch. Vielleicht war es nicht nur abergläubischer Unsinn, wie ihre Mutter sie glauben machen wollte, sondern die düsteren Geschichten hatten einen Kern, und hier drinnen lebte Etwas, das dafür verantwortlich war, dass so viele, die in diesen Wald hineingegangen waren, ihn nie wieder verlassen hatten. Hatte nicht ihre Mutter selbst ihr erzählt, dass in den allermeisten Geschichten - und wenn sie auch noch so phantastisch klangen - zumindest ein Fünkchen Wahrheit steckte? Und - viel schlimmer! - hatte sie nicht in den letzten Tagen mehr als einmal erlebt, dass ihre Mutter nicht so unfehlbar und allwissend war, wie sie zuvor geglaubt hatte?

Irgendwie gelang es Arri, die flüsternde Stimme, wenn schon nicht zum Verstummen zu bringen, so doch so weit zurückzudrängen, dass sie ihre Gedanken mit ihrem Gift nicht vollends durchdringen konnte. Sie tat ihrer Mutter Unrecht. Lea war möglicherweise nicht die allwissende und unüberwindliche Beschützerin, als die sie sie zeit ihres Lebens gesehen hatte, aber sie war dennoch eine sehr kluge Frau, und vor allem war sie in diesen Wäldern zu Hause und kannte vermutlich jeden Fußbreit Boden ebenso gut wie das Stück Land vor ihrem Haus.

Dennoch atmete Arri hörbar erleichtert auf, als es weit vor ihnen endlich grau zu werden begann. Die vollkommene Schwärze verwandelte sich in ein Muster aus dunklen Umrissen, die allesamt etwas Bedrohliches zu haben schienen, wie eine Parade der unglaublichsten Ungeheuer, die mitten in der Bewegung erstarrt waren und nur darauf warteten, von einem unvorsichtigen Laut, einer versehentlichen Berührung, geweckt zu werden. Einmal streifte tatsächlich etwas ihr Bein, etwas Lebendiges und Warmes, das lautlos, aber blitzschnell davonhuschte, und Arri konnte gerade noch einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken, und kurz, bevor sie den Rand des Waldes erreichten, tat ihre Mutter vor ihr einen Fehltritt und versank fast bis ans Knie in dem Sumpf, der plötzlich dort war, wo sie festen Boden erwartet hatte. Gedankenschnell warf sie sich zurück, fand mit der linken Hand Halt an einem Baumstamm und befreite sich aus eigener Kraft aus der Falle, in die sie hineingetappt war, aber der saugende Laut, der dabei entstand, jagte Arri einen eisigen Schauer über den Rücken.

Es war nur das Gluckern des Sumpfes, das tückisch unter der vermeintlich festen Oberfläche lauerte, doch für Arri hörte es sich in diesem Moment an wie das Seufzen von etwas Lebendigem, das zornig darüber war, sich seiner schon fast sicher geglaubten Beute beraubt zu sehen. Einen respektvollen Bogen um die betreffende Stelle schlagend und langsamer als bisher, ging ihre Mutter weiter, und Arri folgte ihr in noch geringerem Abstand, obwohl sie jetzt aufpassen musste, ihr nicht in die Fersen zu treten. Zwei- oder dreimal geschah das sogar, aber Lea enthielt sich jeder Bemerkung, obwohl sie ihrer Tochter eine solche Ungeschicklichkeit sonst niemals hätte durchgehen lassen.

Sie atmeten beide erleichtert auf, als sie endlich den Waldrand erreichten und die weite Lichtung der kleinen Felsengruppe vor ihnen lag. Es war immer noch nicht wirklich hell geworden, und Mond und Sterne waren ebenso wenig zu sehen wie vorhin, aber die dicht geschlossene Wolkendecke hoch über ihnen hatte sich jetzt grau gefärbt, nicht mehr schwarz, und in dem Durcheinander aus Schatten und verschwommenen Umrissen, das sie umgab, erschienen die ersten, angedeuteten Farben. Es begann schon zu dämmern. Sie rasteten bei den Felsen, neben denen der Bach wie selbstvergessen vor sich hinplätscherte. Arri ließ sich auf die Knie nieder, um von dem eiskalten Wasser zu trinken, und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen einen moosbewachsenen Stein, um ein bisschen zu verschnaufen. Aber ihre Mutter gönnte ihr keine längere Rast, ganz im Gegenteil; sie scheuchte sie wieder hoch und ging schneller weiter als zuvor.

Arri hatte erwartet, dass die zweite Hälfte des Weges weit weniger anstrengend werden würde als die erste, aber das war ein Irrtum. Der Weg war nicht nur ebenso anstrengend, sondern auch deutlich länger, und so verrückt es ihr auch selbst vorkam, war es doch beinahe schlimmer zu sehen, wohin sie ging, statt in vollkommener Dunkelheit hinter ihrer Mutter herstolpern zu müssen. Als sie sich endlich dem jenseitigen Rand des Waldes und damit ihrer Hütte näherten, war Arri am Ende ihrer Kräfte angelangt. Es war mittlerweile vollends Tag geworden. Selbst hier unten, im Wald, war es hell, und das klare, goldfarbene Sonnenlicht, das durch das dünner werdende Blätterdach fiel, ließ sie eine Wärme erwarten, die es erst in vielen Mondwenden wieder geben würde. Ganz im Gegenteil war es noch immer so kalt, dass ihr Atem vor ihrem Gesicht dampfte und das trockene Laub unter ihren Schritten mit einem Geräusch wie dünnes Eis brach. Trotz der zwei Umhänge, die Arri noch immer trug, war die Kälte längst bis in ihre Knochen vorgedrungen, und obwohl sie selbst wusste, wie albern diese Vorstellung war, glaubte sie ein paar Mal doch selbst, ihre eigenen Knochen knirschen zu hören.

Taumelnd vor Erschöpfung trat sie hinter Lea aus dem Wald und biss die Zähne zusammen, um Kraft für das letzte Stück Weg zu sammeln, auch wenn allein der Gedanke an die Stiege, die am Ende dieser Strecke auf sie wartete, ihr wiederum ein lautloses Stöhnen entlockte. Aber Lea hob rasch die Hand und hielt sie zurück. »Warte«, sagte sie.

Arri war viel zu müde, um zu widersprechen. Selbst die kleine Anstrengung, den Kopf zu drehen und ihre Mutter fragend anzusehen, ging fast über ihre Kräfte. Sie war sogar zu müde, um Mitleid zu empfinden, obwohl Lea einen Anblick bot, der wahrlich bemitleidenswert war. Ihr Kleid war nicht nur durch zahllose Brandflecken verunstaltet, sondern auch überall eingerissen und verdreckt, und ihre Haut hatte den kränklichen Ton der feinen Asche, die Achk manchmal früher aus seinem Brennofen geholt hatte. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und obwohl sie ganz still stand und sich mit höchster Konzentration umblickte, zitterte sie doch zugleich am ganzen Leib. Ihr Haar, das immer so glatt und glänzend wie ruhig daliegendes Wasser gewesen war, wirkte jetzt stumpf und strähnig, und ihre Lippen waren eingerissen und von Schorf bedeckt.