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»Du hast...«

»... alles gehört, ja«, sagte Rahn. »Jedes Wort. Wenn ich wirklich nur bei dir wäre, um für Sarn zu spionieren, dann würden wir dieses Gespräch jetzt nicht führen, meinst du nicht?«

»Warum bist du dann hier?«, fragte Lea lauernd.

»Das habe ich doch gesagt«, antwortete Rahn. »Ich will mit euch kommen.«

»Mit Dragosz und mir?«, wiederholte Lea zweifelnd. »Obwohl du glaubst, dass er euer Feind ist?«

»Wo wäre ich sicherer als bei ihm, wenn es wirklich so ist?«, fragte Rahn. »Wenn du die Wahrheit sagst und sein Volk wirklich nichts Böses gegen uns plant - umso besser. Ich habe mich immer schon gefragt, was jenseits der Berge sein mag.«

Lea schwieg lange Zeit. Sie glaubte Rahn kein Wort, das stand überdeutlich in ihrem Gesicht geschrieben, aber sie wusste auch ebenso eindeutig nicht, was sie von seiner Behauptung halten sollte. »Das ist... wirklich alles, was du verlangst?«, vergewisserte sie sich. »Du willst nur mit uns kommen? Obwohl du nicht einmal weißt, was dich erwartet?«

Rahns Blick löste sich für einen Moment von ihrem Gesicht und streifte Arri, kehrte aber dann gleich wieder zu ihr zurück. »Weißt du es denn?«, fragte er.

Arris Mutter zögerte gerade einen Moment zu lange, um ihre Worte glaubhaft klingen zu lassen. »Ja«, sagte sie dann, »ich denke schon. Aber ich fürchte, du weißt es nicht. Stellst du es dir wirklich so einfach vor, von hier weg zu gehen und dein ganzes Leben hinter dir zu lassen?«

»Was für ein Leben, wenn du nicht mehr da bist und Elend und Hunger ins Dorf Einzug halten?«, gab Rahn verächtlich zurück. »Jeden Tag in die Zella zu waten und mit Speeren hinter Fischen herzustochern oder ihnen mit Angeln oder Netzen auf den Leib zu rücken? Im Winter zu hungern und im Sommer von der Hand in den Mund zu leben?«

»Du wirst nicht wissen, ob dich bei Dragosz’ Volk ein anderes Schicksal erwartet. Es könnte schlimmer sein.«

»Schlimmer als unter Sarns Knute zu leben und zu sehen, wie alles, was wir mit deiner Hilfe geschaffen haben, Stück für Stück verfällt?« Rahn schnaubte abfällig. »Kaum.«

»Und ich bin nicht einmal sicher, dass Dragosz es gestattet«, fuhr Lea fort. Sie klang beunruhigt, nicht sehr, aber doch so, dass es Arri auffiel. Ihrer Mutter gingen die Einwände aus.

»Dann solltest du dafür sorgen, dass er es zulässt«, erwiderte Rahn kalt. Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Es ist deine Entscheidung. Sarn wird mich so oder so nach Goseg schicken, wenn er erfährt, dass du zurück bist. Ich werde gehen. Die Frage ist nur, wohin - zusammen mit dir und deiner Tochter oder nach Goseg, um mit Nors Kriegern zurückzukommen.«

Lea schwieg eine geraume Weile, aber in ihrem Gesicht arbeitete es. Arri konnte erkennen, dass die unterschiedlichsten Empfindungen hinter ihrer Stirn einen stummen, aber erbitterten Kampf ausfochten. Zweifellos machten sie Rahns Worte zornig, aber auch die Teilnahmslosigkeit war noch da; und eine vage Trauer, die Arri im ersten Moment nicht verstand. »Ich kann dir nicht versprechen, dass du bei Dragosz’ Volk willkommen bist«, sagte sie schließlich.

Rahn hob die Schultern. »Wenn Sarn erfährt, dass ich dich gewarnt habe«, erklärte er mit einem bitteren Lachen, »werde ich hier auch nicht mehr willkommen sein.«

»Muss er es denn erfahren?«, fragte Lea.

»Was?«, fragte Rahn. »Dass ich dich gewarnt habe?«

»Dass wir zurück sind«, antwortete Lea.

Arri sah ihre Mutter verwirrt an, schwieg aber, und auch Rahn schwieg einen Moment, als müsse er angestrengt über diese Worte nachdenken. Schließlich fragte er: »Wie meinst du das?«

»Bisher weiß niemand, dass wir hier sind«, antwortete Lea. »Und wenn wir vorsichtig sind, wird das auch so bleiben. Sarn hat dir aufgetragen, das Haus im Auge zu behalten und ihm Bescheid zu geben, wenn wir zurückkommen?«

Rahn zögerte ganz kurz, dann nickte er beinahe widerwillig.

»Dann tu einfach, was er dir gesagt hat, und beobachte meine Hütte«, fuhr Lea fort. »Du musst ja nicht unbedingt merken, dass wir wieder hier sind.«

»Ihr wollt euch hier verstecken?«, fragte Rahn. »Wozu soll das gut sein?«

»Nur für einen Tag«, antwortete Lea. »Wir gehen heute Nacht, sobald die Sonne untergegangen ist. Ich würde gleich aufbrechen, aber Arri ist müde und braucht dringend Schlaf, und ich muss noch gewisse Vorbereitungen treffen. Und dir würde ich raten, ebenfalls ein wenig zu schlafen. Wir haben einen anstrengenden Marsch vor uns und werden keine Rast einlegen.«

»Dann nehmt ihr mich mit?«

Lea hob die Schultern. »Ich kann dich ja sowieso nicht daran hindern, oder?«

»Nein«, erklärte Rahn rundheraus. Er wirkte ein bisschen überrascht, als hätte er mit deutlich mehr Widerstand gerechnet. Zögernd stand er auf, tat einen einzelnen Schritt und machte dann noch einmal kehrt, um seinen Knüppel zu holen. Leas Blick folgte seinen Bewegungen scheinbar teilnahmslos, aber sie war nicht besonders gut darin, sich zu verstellen; Arri spürte deutlich die Anspannung, die hinter dieser aufgesetzten Ruhe herrschte, und Rahn vermutlich auch.

»Dann wäre es dumm, es auch nur zu versuchen«, sagte Lea mit wenig Überzeugung in der Stimme und einem noch weniger überzeugenden Schulterzucken. »Außerdem ist es vielleicht ganz gut, einen starken Mann bei uns zu haben. Der Weg ist lang und nicht ungefährlich, vor allem für zwei wehrlose schwache Frauen wie uns.«

Rahns Augen wurden schmal; zumal sich Lea nicht einmal mehr Mühe gab, den beißenden Spott aus ihrer Stimme zu verbannen. Er sagte jedoch nichts, sondern beließ es bei einem zornigen Blick und ging weiter, blieb aber unmittelbar vor der Tür noch einmal stehen. »Bei Dunkelwerden?«, vergewisserte er sich.

»Besser eine kleine Weile danach«, antwortete Lea. »Sobald es im Dorf ruhig geworden ist. Und komm so, wie du bist. Bring nichts mit - oder vielleicht deinen Knüppel da.«

Rahn wirkte nun endgültig verstört, beließ es aber auch jetzt bei einem gleichermaßen verwirrten wie hilflosen Blick, schlug schließlich mit einer eindeutig zornigen Bewegung den Muschelvorhang beiseite und ging. Lea wartete nur einen Augenblick, dann wandte sie sich mit einem Seufzen zu Arri um und fügte hinzu: »Nicht, dass dieser Dummkopf am Ende noch sein ganzes Hab und Gut zusammenrafft und sich hinterher wundert, wenn wir ein halbes Dutzend von Nors Kriegern am Hals haben.«

Arri sah ihre Mutter verwirrt an. Lea mochte ja Recht haben, aber sie hatte eindeutig nicht lange genug gewartet und auch zu laut gesprochen, als dass sie sicher sein konnte, dass Rahn die Worte nicht doch noch hörte.

Dann fing sie Leas fast beschwörenden Blick auf, und ihr wurde klar, dass ganz genau das ihre Absicht gewesen war: Rahn sollte sie hören. Aber warum?

Sie kleidete die Frage in einen entsprechenden Blick, aber Lea winkte fast erschrocken ab und fuhr - beinahe noch lauter - fort: »Es ist gut jetzt. Leg dich hin und versuch zu schlafen. Ich wecke dich, wenn es dunkel wird.«

Arri rührte sich nicht, um der Aufforderung ihrer Mutter nachzukommen, doch das schien Lea auch gar nicht erwartet zu haben. Sie blieb noch eine Weile regungslos stehen, dann ging sie zur Tür, teilte den muschelbesetzten Vorhang vollkommen lautlos und lauschte konzentriert.

»Er ist weg«, sagte sie schließlich.

»Ich verstehe nicht ganz«, begann Arri, suchte nach Worten und setzte dann neu an: »Warum hast du das gesagt? Rahn hat dich bestimmt gehört.«

»Rahn«, antwortete ihre Mutter betont, »erwartet so etwas von mir. Er würde misstrauisch werden, wenn ich nichts in dieser Art gesagt hätte.« Sie machte eine ärgerliche Handbewegung. »Und nun tu, was ich dir gesagt habe, und leg dich hin. Du bist noch lange nicht wieder gesund, und wir haben einen ziemlich anstrengenden Tag vor uns.«