Arri rührte sich nicht. »Was hättest du getan, wenn er sich nicht auf dein Angebot eingelassen hätte?«, fragte sie.
Sie las die Antwort auf ihre Frage in Leas Augen, noch bevor ihre Lippen sie aussprachen. »Dann hätte er dieses Haus nicht lebend verlassen.«
26
Sie erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen, einem üblen Geschmack im Mund und dem sicheren Wissen, nicht lange genug geschlafen zu haben, nicht einmal wirklich lange. Jemand - ihre Mutter, wer sonst? - rüttelte an ihrer Schulter, beinahe sanft, aber doch mit einer fast unangenehmen Beharrlichkeit, die es unmöglich machte, die Berührung aus ihren Gedanken auszuschließen und sich in die verlockende Umarmung des Schlafes zurücksinken zu lassen, was sie lieber als alles andere getan hätte. Und sie glaubte auch, ihre Stimme zu hören, aber sie war noch viel zu benommen, um die Worte zu verstehen, geschweige denn, es zu wollen.
Aber natürlich ließ der Quälgeist keine Ruhe. Das Rütteln an ihrer Schulter hielt an, und auch Leas Stimme wurde drängender und zugleich klarer. »Arianrhod, wach auf. Es ist Zeit.«
»Zeit wofür?« Arri hob widerwillig das linke Augenlid und schloss es hastig wieder, als sich das Sonnenlicht wie ein dünnes, weiß glühendes Messer tief in ihren Schädel bohrte.
»Arianrhod, Liebling - es ist Zeit. Du musst aufwachen.«
Möglicherweise war es genau dieses Wort, das Arri endgültig in die Wirklichkeit zurückbrachte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter sie das letzte Mal Liebling genannt hatte, oder ob überhaupt. Verwirrt hob sie abermals die Augenlider und sah zu ihrer Mutter hoch. Lea sah mit einem Ausdruck unübersehbarer Sorge auf sie herab, aber sie wirkte zugleich auch sehr entschlossen. Außerdem stimmte etwas mit dem Licht nicht, das hinter ihr durch den Vorhang fiel. »Was...?«, nuschelte Arri.
»Du musst aufwachen«, sagte ihre Mutter. »Es ist Zeit.«
Zeit wozu?, dachte Arri benommen. Müde blinzelte sie an Lea vorbei in Richtung der Tür. Der Muschelvorhang verhinderte, dass sie mehr als vage Schatten erkennen konnte, aber ihr war immerhin klar, dass es draußen zu hell war.
»Was... ist denn los?«, murmelte sie schlaftrunken, während sie sich benommen auf die Ellbogen hochstemmte und ein paar Mal blinzelte, damit sich ihr Blick klärte.
»Wir müssen los«, sagte ihre Mutter noch einmal. »Hier. Trink das.« Sie reichte Arri eine Schale mit kaltem Wasser, die sie zwar gehorsam entgegennahm, aber noch nichts davon trank, obwohl sie durstig war. »Los?«, wiederholte sie verständnislos. »Aber es ist doch erst...«
»Ich weiß, wie spät es ist«, unterbrach sie Lea. Arris Blick klärte sich allmählich, und wenn auch nicht ganz, so sah sie doch immerhin, dass ihre Mutter ihr Winterkleid angezogen und die Risse in ihrem Umhang geflickt und die Flecken entfernt hatte, so gut es eben ging. Ihr Gesicht war noch immer sehr blass, und die Ringe unter ihren Augen waren eher noch tiefer geworden, aber sie war sauber gewaschen, und ihr Haar glänzte, als hätte sie es den ganzen Tag gekämmt. Besonders viel geschlafen hatte sie offensichtlich nicht; falls überhaupt.
»Was ist denn los?«, murmelte sie, immer noch benommen und schlaftrunken, aber doch allmählich wacher werdend.
»Trink«, sagte ihre Mutter. »Und dann steh auf. Es wird Zeit.«
Sie sagte nicht, wozu, und Arri ersparte es sich, die Frage noch einmal laut zu stellen. Sie hätte sowieso keine Antwort bekommen, wozu sich also die Mühe machen? Gehorsam setzte sie die Schale an die Lippen, trank zuerst einen kleinen, vorsichtigen Schluck, dann, als das kalte Wasser ihren Durst erst richtig entfachte, einen zweiten und sehr viel größeren, und leerte sie schließlich zur Gänze, als ihre Mutter auffordernd nickte. Das Wasser war nicht nur eiskalt und frisch, es schmeckte auch ganz leicht nach Kräutern; vielleicht hatte ihre Mutter etwas hineingetan, was ihr helfen sollte, wieder zu Kräften zu kommen oder zumindest schneller wach zu werden. Eigentlich sollte sie das beunruhigen, denn obwohl Lea niemals müde wurde, ihr von den gewaltigen Heilkräften vorzuschwärmen, die die Natur besaß, erwähnte sie jedoch beinahe ebenso oft, wie gefährlich und dumm es doch war, diese Kräfte zu oft und zu leichtfertig einzusetzen. Aber vielleicht übertrieb sie es jetzt auch mit ihrem Misstrauen.
»Bist du so weit?«, fragte Lea und riss sie damit reichlich unsanft aus ihren Gedanken.
Die ehrliche Antwort auf diese Frage wäre ein klares Nein gewesen - ganz gleich, was Lea auch immer damit meinen mochte -, aber Arri blinzelte ihre Mutter nur verständnislos an und fragte dann: »Wie weit?«
Lea machte eine Kopfbewegung zur Tür hin; unwillig, wie es Arri vorkam. »Wir müssen weg. Es ist Zeit.«
Zeit wofür?, fragte sich Arri zum wiederholten Male. Ein einziger Blick in das Gesicht ihrer Mutter machte ihr jedoch klar, dass es wenig ratsam wäre, diese Frage noch einmal zu stellen. Lea wirkte unruhig, fast ein wenig besorgt, und schon wieder gereizt. Statt auch nur irgendetwas zu sagen, stand Arri auf, strich sich mit beiden Händen glättend über ihre Kleider, was vollkommen unangemessen war - und nickte dann. Wenn diese Bewegung ihre Mutter auch nur mit der Andeutung von Zufriedenheit erfüllte, dann verbarg sie es meisterhaft, denn sie drehte sich mit einer eindeutig zornigen Bewegung um, ging zum Ausgang und schlug den Muschelvorhang so wuchtig beiseite, als stünden ihr dort Rahn oder gar Sarn im Wege und wollten sie am Verlassen der Hütte hindern.
Trotz allem fühlte Arri sich immer noch benommen und schläfrig, sodass sie Leas überdeutliche Aufforderung offensichtlich nicht rasch genug befolgte, denn das Gesicht ihrer Mutter verfinsterte sich noch mehr, und Arri konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, eine bissige Bemerkung zurückzuhalten. Sie beherrschte sich jedoch und beließ es bei einem ungeduldigen Blick und einem ärgerlichen Zusammenpressen der Lippen, bis Arri an ihr vorbei und auf die oberste Stufe der steilen Stiege getreten war.
Sie hielt inne. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, aber der Tag war trüb. Es gab keine Wolken, doch aus dem sonst so strahlenden Blau des Firmaments war ein verwaschenes Grau geworden, und obwohl es nicht wirklich kalt war, fröstelte Arri doch im allerersten Moment, denn der Anblick machte ihr endgültig und unwiderruflich klar, wie nahe der Winter bereits war. Sie wusste, dass es nicht sein konnte, aber sie glaubte bereits Schnee in der Luft zu riechen.
»Worauf wartest du?«, drängte Lea hinter ihr. Arri setzte sich ohne zu zögern in Bewegung, blieb aber unmittelbar am Fuß der Stiege abermals stehen und sah sich schaudernd nach rechts und links um. Ohne dass sie sich der Bewegung auch nur selbst bewusst gewesen wäre, zog sie den Umhang enger um die Schultern zusammen. Es war beinahe Mittag, dem Stand der Sonne nach zu schließen, und die fast weiß brennende Sonnenscheibe am Himmel hatte trotz allem noch immer genug Kraft, um die Nachtkälte längst vertrieben zu haben. Aber es war auch nicht die äußere Kälte, die sie frösteln ließ, sondern etwas, das aus ihrem Inneren kam. Arri schob das Gefühl auf die überstandenen Strapazen und ihre Müdigkeit, die einfach nicht weichen wollte, obwohl sie wahrlich lange genug geschlafen hatte.
»Worauf wartest du?«, fragte ihre Mutter noch einmal, nachdem sie die unterste Treppenstufe erreicht und eine Weile vergebens darauf gewartet hatte, dass Arri beiseite trat und ihr Platz machte. Diesmal antwortete sie. »Wohin gehen wir?«
»Fort«, antwortete Lea.
Arri war nur im allerersten Moment über diese Antwort verärgert; gerade so lange, wie sie brauchte, um zu begreifen, dass dies nicht einfach nur wieder die übliche, unwillige Art ihrer Mutter war, auf Fragen zu antworten, die sie für überflüssig hielt oder auf die sie einfach nicht antworten wollte. Diesmal war es die Wahrheit gewesen. Sie hatte es ihr gesagt, und dennoch erschreckte dieses eine Wort Arri nun so sehr, dass sie zwei Schritte vor ihrer Mutter zurückprallte und sie aus aufgerissenen Augen anstarrte. Ja, sie würden fortgehen, und das wortwörtlich und wahrscheinlich für immer.