»Dass ihre Furcht vor dem Unbekannten größer als ihre Neugier ist«, antwortete Lea, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Aber vielleicht war es ja auch das, was unserem Volk am Ende den Untergang gebracht hat.«
Arri wollte eine entsprechende Frage stellen, doch in diesem Moment hielt ihre Mutter mitten im Schritt inne, hob fast erschrocken die Hand und legte gleichzeitig lauschend den Kopf auf die Seite. Einen Herzschlag lang blieb sie mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem so stehen, dann fiel die Anspannung ebenso plötzlich wieder von ihr ab, wie sie gekommen war.
»Was hast du?«, fragte Arri erschrocken.
»Nichts«, behauptete ihre Mutter. Sie zwang sich zu einem Lächeln, das Arris Beunruhigung aber eher noch schürte. »Ich bin vorsichtig, das ist alles.«
»Glaubst du, dass Rahn...?«
»... uns folgt?«, fiel ihr Lea ins Wort, beantwortete ihre eigene Frage mit einem Kopfschütteln und hob gleich darauf die Schultern. »Ich will es nicht hoffen. Dumm genug dazu wäre er allemal, aber...«
Sie sprach nicht weiter, sondern presste nur die Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammen, doch es wäre auch gar nicht nötig gewesen. Für einen Moment schien es genau anders herum zu sein als bisher: Jetzt war es Arri, die ihre Gedanken so deutlich lesen konnte, als stünden sie ihr auf der Stirn geschrieben. Wenn Rahn tatsächlich so dumm gewesen war, ihnen nachzuschleichen, dann würde er diese Dummheit vermutlich mit dem Leben bezahlen.
»Komm«, sagte Lea, mit einer plötzlich unwilligen Geste tiefer in den Wald hineindeutend. »Gehen wir weiter. Je schneller wir von hier verschwinden, desto besser. Ich werde allmählich unruhig.«
Arri warf ihr einen verstörten Blick zu, aber sie hütete sich auch, nur mit einem einzigen Wort zu widersprechen. Ihre Mutter war wieder so gereizt wie eh und je. Der magische Augenblick der Vertrautheit war vorbei, und jeder Versuch, ihn zurückzuzwingen, würde es nur schlimmer machen. Arri beherrschte ihre Enttäuschung - wenn auch mit Mühe - und unterdrückte sogar den Impuls, sich noch einmal umzudrehen, bevor sie weiterging.
Wahrscheinlich hätte sie es auch gar nicht gekonnt, denn ihre Mutter schlug ein merklich schärferes Tempo an als bisher, sodass es Arri fast schon Mühe kostete, mit ihr Schritt zu halten. Lea nahm dabei weder Rücksicht auf sie noch auf das neue Kleid, das sie an diesem Morgen erst angezogen hatte. So viel zu ihrer Behauptung, sie hätte nichts Verdächtiges gehört, dachte Arri. Sie marschierten in stumpfer Monotonie weiter, bis die Sonne schließlich als rot glühender Ball am Horizont versank und sich der Himmel über der Ebene so fest zuzog, als wolle Mardan, der Nachtgott, eine dicke Decke darüber ausbreiten.
Nach einer geraumen Weile suchte Arri nach einer passenden Ausrede, die es ihr ermöglichen würde, das immer quälender werdende Schweigen zu brechen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Doch ihre Mutter nahm ihr die Mühe ab. Sie blieb so plötzlich stehen, dass Arri es erst wahrnahm, als sie bereits neben und fast an ihr vorbei war, und hob gleichzeitig warnend die linke Hand. Ihre andere senkte sich rasch und lautlos auf den Schwertgriff hinab.
»Was...«, begann Arri, und brach sofort und erschrocken wieder ab, als Lea ihre warnende Handbewegung heftiger wiederholte und sich gleichzeitig rasch und vollkommen lautlos einmal um sich selbst drehte. Ein angespannter, höchst konzentrierter Ausdruck lag plötzlich auf ihrem Gesicht. Sie hatte etwas gehört.
Auch Arri lauschte angespannt in die Nacht hinein, doch alles, was sie hörte, war das seidige Geräusch, mit dem der Wind durch das Gras strich, und das dumpfe, immer schneller werdende Wummern ihres eigenen Herzschlags in den Ohren. Dennoch war sie sicher, dass da etwas war. »Was?«, flüsterte sie, nachdem sich Lea ein zweites Mal umgedreht und dann wieder ganz in ihre Richtung gewandt hatte.
»Still!«, zischte ihre Mutter. Sie sprach eindeutig lauter, als Arri es getan hatte, doch ihre Stimme hatte einen eigentümlichen Klang angenommen, der möglicherweise ebenso weit zu hören sein mochte wie ein normal gesprochenes Wort, irgendwie aber mit dem seidigen Geräusch des Windes im Gras verschmolz, sodass selbst Arri das Wort mehr erriet, als dass sie es wirklich verstand. »Jemand kommt!«
Arri lauschte noch einmal und jetzt mit angehaltenem Atem, konnte aber ebenso wenig hören wie zuvor. Trotzdem begann ihr Herz noch schneller zu hämmern. Wenn ihre Mutter sagte, dass dort jemand war, dann war da auch jemand. So einfach war das.
Lea bückte sich noch ein wenig weiter, zog das Schwert eine Handbreit aus der ledernen Schlaufe an ihrem Gürtel heraus und ließ es dann lautlos wieder zurücksinken. Vollkommen willkürlich, wie es Arri schien, hob sie den anderen Arm und deutete nach links in die Dunkelheit hinein. »Dorthin«, befahl sie mit ihrer hellen Flüsterstimme. »Zu den Bäumen! Rasch!«
Bäume? Arri starrte einen halben Herzschlag lang so konzentriert in die Richtung, in die ihre Mutter gedeutet hatte, wie sie es nur konnte, aber sie sah dort überhaupt nichts. Nur Schwärze. Dennoch setzte sie sich gehorsam in Bewegung, als Lea mit raschen und dennoch fast lautlosen Schritten loseilte. Arri selbst vermochte sich nicht annähernd so lautlos zu bewegen, aber sie tröstete sich damit, dass das Rascheln des Windes im Gras das Geräusch ihre Schritte schon übertönen würde.
Sie liefen vielleicht dreißig oder vierzig Schritte weit durch das hohe Gras, bevor Lea abermals stehen blieb, eine leicht geduckte Haltung einnahm und sich gehetzt nach allen Seiten hin umsah. Diesmal reagierte Arri schnell genug, sodass sie nicht an ihr vorbeistürmte, doch dafür ging ihr Atem jetzt so laut, dass sie sicher war, dass das Geräusch jeden Verfolger in weitem Umkreis auf ihre Spur bringen musste. Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen. Sie wollte eine Frage stellen, erkannte an dem angespannten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter aber im letzten Moment, wie gebannt diese lauschte, und sah sich stattdessen nur aus weit aufgerissenen Augen um.
Ein gutes Stück vor ihnen schien die Dunkelheit deutlich massiger zu sein als ringsum; vermutlich die Bäume, von denen ihre Mutter gesprochen hatte. Doch wenn sie der Rettung schon so nahe waren, warum zögerte sie dann?
Sie bekam die Antwort auf diese Frage, kaum dass sie den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, aber auf eine gänzlich andere Weise, als ihr lieb gewesen wäre.
Lea setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, als aus der Dunkelheit vor ihnen ein scharfes, trockenes Knacken ertönte, das Arri auch dann als das Brechen eines Zweiges erkannt hätte, hätte ihre Mutter sie nicht so überaus gründlich gelehrt, die Bedeutung verborgener Geräusche herauszufinden. Lea fuhr herum und zog ihr Schwert, und vielleicht war es das allererste Mal, dass sie tatsächlich einen Fehler beging; zumindest das allererste Mal, dass Arri es sah.
Und dennoch wäre es um ein Haar ein tödlicher Fehler gewesen.
Gestalten stürzten aus der Nacht heraus. Aber sie kamen nicht aus der Richtung, aus der das verräterische Geräusch gekommen war, sondern stürmten von hinten heran: die Verfolger, die ihre Mutter gehört hatte und die den winzigen Moment der Unaufmerksamkeit nutzten.
Es ging viel zu schnell, als dass Arri sich hinterher wirklich noch an Einzelheiten hätte erinnern können. Es waren drei - mindestens, vielleicht auch mehr - große, muskulöse Männer mit schwarzen Mänteln und langen, wehendem Haar, die wie Mardans Schattendämonen lautlos aus der Dunkelheit auftauchten und ihre Mutter angriffen, ohne auch nur einen Atemzug zu zögern. Alle drei waren mit Schwertern bewaffnet, und mindestens einer trug einen großen, mit barbarischen Symbolen bemalten Schild am linken Arm.
Er war der Erste, der starb.
Arri sah sich plötzlich ebenfalls von einem riesigen Schatten in die Enge getrieben, der unmittelbar vor ihr aus dem Boden gewachsen zu sein schien, sodass ihr gar keine Zeit blieb, genauer hinzusehen. Dann hörte sie auch schon das typische zischende Geräusch, mit dem das Zauberschwert ihrer Mutter durch die Luft fuhr - ein ganz anderer Laut als der, den die Bronzeschwerter der Krieger verursachten -, und darauf ein dumpfes Krachen, das in einem gellenden Schmerzensschrei unterging. Irgendetwas traf sie selbst mit solcher Wucht an der Schulter, dass sie nicht nur von den Füßen gerissen wurde und sich zwei-, drei-, viermal überschlug, sondern auch für einen Moment mit aller Kraft gegen die dunklen Schatten der Ohnmacht ankämpfen musste, die ihre Gedanken zu verschlingen versuchten.