Arri erschrak. »Tot?« Der Tod gehörte zum Leben im Dorf dazu wie der tägliche Sonnenaufgang und der immer gleiche Wechsel von Sommer und Winter, und er konnte jeden jederzeit treffen, sodass er zwar stets ein Anlass zur Trauer war, aber selten überraschend kam. In diesem Augenblick aber, in dem Grahl mit schriller Stimme erzählte und sein sichtlich schwer verwundeter Bruder mit totenbleichem Gesicht die eine oder andere Ergänzung dazu gab, erschreckte dieses Wort Arri zutiefst. Was, wenn Osh sich nicht nur wichtig machte, sondern die Wahrheit sprach?
Ohne auf die heftig durcheinander schnatternden Männer und Frauen zu achten, bahnte sich Arri einen Weg zu den beiden Jägern und zupfte Grahl am Ärmel seines Umhangs, der grob aus unterschiedlich großen Stücken Wildschweinfell zusammengenäht war und weder bequem noch wirklich warm sein konnte, dafür aber hervorragend zu der schweren Kette aus Bärenkrallen und Hauern passte, die der Jäger um den Hals trug. Grahl genoss zu Recht den Ruf eines hervorragenden Jägers, war darüber hinaus aber ein ziemlicher Dummkopf und Angeber. Arri musste zwei oder drei Mal an seinem Arm zerren, bis es ihr gelang, seine Aufmerksamkeit zu erregen, und er wenigstens für einen Moment sein heftiges Fuchteln mit den Armen einstellte.
»Was?«, fauchte er.
»Dein Bruder«, antwortete Arri. »Er ist verletzt. Bring ihn zu meiner Mutter.«
In Grahls eng beieinander stehenden, unter buschigen Brauen verborgenen Augen blitzte ein Ausdruck auf, den Arri nur als reine Wut bezeichnen konnte, obgleich sie dieses Gefühl nicht im Mindesten verstand. Dann presste er die Lippen aufeinander, und sie konnte regelrecht sehen, wie er eine Menge wenig freundlicher Worte herunterschluckte, die für sie bestimmt gewesen waren.
»So schlimm ist es nicht«, antwortete Kron an seiner Stelle, und das mit einer Stimme, die sich so anhörte, als kämpfe er mit aller Macht darum, sich noch auf den Beinen zu halten. Wahrscheinlich kam das der Wahrheit auch ziemlich nahe, wie Arri jetzt, wo sie unmittelbar vor ihm stand, erkannte. Sie sah, dass er den verletzten Arm nicht wirklich gegen den Leib presste, sondern mit einem groben Strick daran festgebunden hatte.
»Was mischst du dich ein?«, fauchte eine Stimme hinter ihr, die sie als die des Fischers Rahns erkannte, ohne sich zu ihm umdrehen zu müssen.
»Vielleicht hat sie ja Recht«, murmelte Grahl zu ihrer Überraschung. Diese unerwartete Zustimmung hinderte ihn nicht daran, Arri noch einmal mit einem kurzen, fast angewiderten Blick zu streifen. Dann jedoch wandte er sich direkt an seinen Bruder. »Geh mit ihr. Ihre Mutter soll sich um deine Wunde kümmern. Wenn sie hierher kommen, brauchen wir jeden Mann, um zu kämpfen.«
Kämpfen?, dachte Arri alarmiert. »Aber was ist denn geschehen?«, murmelte sie.
»Das geht dich nichts an«, sagte Grahl grob. »Wir bringen meinen Bruder jetzt zu deiner Mutter. Sie muss ihn schnell gesund machen. Wir sind alle in großer Gefahr.«
»Ich helfe dir«, sagte Rahn. Ungeduldig drängte er sich an Arri vorbei, wobei er natürlich die Gelegenheit nutzte, ihr einen so derben Stoß zu versetzen, dass sie fast gestürzt wäre, und streckte Kron die Hände entgegen, doch der Jäger schlug diese mit dem unversehrten Arm beiseite.
»Ich kann schon noch allein gehen«, knurrte er.
Rahn trat beleidigt zurück, und auch die anderen machten dem groß gewachsenen Jäger hastig Platz. Kron war dafür bekannt, manchmal ohne wirklichen Grund die Fäuste fliegen zu lassen, und dass er verletzt war und sichtlich Mühe hatte, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, machte ihn eher noch reizbarer. Arri trat gehorsam an seine Seite und wandte sich ab, um vorauszugehen, blieb aber nach zwei Schritten wieder stehen und drehte sich noch einmal zu dem jungen Fischer um. Rahn trug wie die meisten Männer im Dorf Beinkleider, lief aber bis weit in den Winter hinein mit nacktem Oberkörper herum, damit auch jeder sehen konnte, wie muskelbepackt und breit gebaut er war - nach Arris Empfinden eindeutig ein Ausgleich dafür, dass sein Verstand nur mit Mühe und Not mit den Fischen mithalten konnte, denen er tagein, tagaus mit dem unterschiedlichsten Fanggerät nachstellte.
»Du kannst uns helfen«, sagte sie und deutete auf den leeren Krug. »Wir brauchen Wasser. Meine Mutter braucht immer viel Wasser, um eine Wunde zu versorgen.«
Rahns Augen wurden schmal. Arri war fast sicher, dass er sich in diesem Moment einfach auf sie gestürzt hätte, hätte nicht das ganze Dorf um sie herumgestanden; aber auch so konnte sie ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel, es nicht zu tun. Dennoch fuhr sie mit einem zuckersüßen Lächeln fort: »Ich kann ihn auch selbst tragen, aber dann dauert es länger, bis wir bei meiner Mutter sind und Kron von seinen Schmerzen erlöst wird.«
4
Kaum hatten sie das letzte, abschüssige Stück des Weges in Angriff genommen, da kam ihnen auch schon Lea entgegen. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie sah, wer sich in Begleitung ihre Tochter befand.
Mit großen Schritten und kampflustiger Miene erreichte sie die vier, bevor sie den halben Weg zur Hütte zurückgelegt hatten. Sie sagte nichts, aber zwischen ihren silberfarbenen Brauen entstand angesichts des Wasserkrugs, den der vorneweg gehende Rahn trug, eine steile Falte, und der Blick, mit dem sie Arri maß, enthielt eine unausgesprochene Frage, auf die sie zwar in diesem Moment sicherlich keine Antwort haben wollte, später dafür aber umso gewisser.
»Was ist geschehen?«, fragte Lea, wobei ihr Blick bereits kundig über Krons Gestalt und vor allem den verbundenen linken Arm tastete und dann seine Augen suchte. Aus einem Grund, den Arri nie wirklich verstanden hatte, sah ihre Mutter den Leuten, die mit einer Krankheit oder einer Verletzung zu ihr kamen, immer zuallererst und sehr lange in die Augen.
»Mein Bruder ist verletzt«, antwortete Grahl. »Sein Arm.«
»Das sehe ich.« Arris Mutter trat zur Seite und vollführte eine auffordernde Geste. »Bring ihn ins Haus.« Mit der anderen Hand hielt sie gleichzeitig Arri und Rahn zurück, als auch diese beiden sich in Bewegung setzen wollten. »Gib Arri den Krug«, wandte sie sich an den Fischer. »Und dann geh zur Zella und hole Nachschub. Ich brauche noch mehr Wasser.«
Rahn sah sie aus seinen braunen Augen eindeutig trotzig an, nahm aber ohne ein Wort den Krug von der Schulter und reichte ihn Arri. »Darüber reden wir später«, zischte ihre Mutter Arri zu, während sie sich bereits umdrehte und den beiden Jägern mit schnellen Schritten folgte. Arri wankte ihnen unter der Last des Kruges gebückt hinterher, fiel aber rasch zurück, sodass die drei bereits in der Hütte verschwanden, als sie gerade die Stiege erreicht hatte. Ächzend setzte sie den schweren Krug ab, gab sich selbst einige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen, und setzte ihren Weg dann mit zusammengebissenen Zähnen fort. Obwohl sie sehr vorsichtig war, verschüttete sie einen gut Teil des Wassers, bis sie endlich durch den Muschelvorhang trat, was ihr einen weiteren ärgerlichen Blick ihrer Mutter einbrachte.
Grahl hatte seinen Bruder mittlerweile zu einer Grasmatratze geführt (ihre Matratze, wie Arri mit einem ärgerlichen Zusammenzucken feststellte) und ihm den Umhang abgenommen. Leas Gesicht blieb vollkommen unbewegt, aber Arri fuhr noch einmal und noch heftiger zusammen, als sie sah, dass Krons Arm auch oberhalb des Verbandes dunkel verfärbt war, an manchen Stellen fast schwarz. Sie verstand nicht annähernd so viel von der Heilkunst wie ihre Mutter, aber das musste sie auch nicht, um zu begreifen, dass es ernst war.
»Was ist passiert?«, wandte sich Lea an Grahl. Bevor er jedoch antworten konnte und ohne den Blick von Krons verbundenem Arm zu nehmen, fuhr sie, an ihre Tochter gewandt, fort: »Mach ein Feuer. Ich brauche heißes Wasser. Und bring mir meine Werkzeuge.«
Arri wankte gehorsam mit ihrer Last zum anderen Ende des Raumes, stellte den Krug mit einem unnötig lauten Knall ab und ging dann zu dem schmalen Durchgang, der ins Nebenzimmer führte. In den ersten Jahren, in denen sie hier gelebt hatten, war ihr Haus das einzige im weiten Umkreis gewesen, das nicht nur aus einem Raum bestanden hatte. Mittlerweile hatten auch etliche Dorfbewohner ihre Pfahlbauten um einen Raum erweitert oder neue Gebäude mit gleich zwei Räumen errichtet, vor allem wenn sie neben der schweren Feldarbeit noch ein Handwerk ausübten und einen Lagerplatz für ihre Vorräte und Waren brauchten oder im Winter ihr Vieh mit ins Haus nahmen. Es lag wohl nur an der alten Tradition und Sarns Starrsinn, dass man die größeren Gebäude hier weiterhin Hütten und nicht Häuser nannte, beinahe so, als sei es eine Schande, mehr als nur den allernotwendigsten Platz für Mensch und Tier zur Verfügung zu stellen.