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»Gerade hast du mir dein Wort gegeben, das Leben meiner Tochter zu verschonen, wenn ich aufgebe«, fuhr sie fort. »Jetzt gebe ich dir meines, dich zu verschonen, wenn du uns gehen lässt.«

»Hast du nicht selbst gesagt, dass dein Wort nicht gilt?«, gab Sarn zurück. »Woher willst du dann wissen, dass ich meines nicht breche?«

»Ich gehe davon aus, dass du das tust«, sagte Lea. Ihre Stimme wurde schärfer, aber auch die Schwäche darin nahm zu. »Rahn! Lass sie los!«

Tatsächlich spürte Arri, wie sich Rahns Griff lockerte; allerdings nicht annähernd weit genug, dass sie sich hätte losreißen können. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, war da immer noch das Messer, das dafür sorgte, dass sie sich bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung den Hals durchschneiden musste.

»Rahn«, sagte Sarn ruhig. »Ich senke jetzt meinen Stab. Wenn die Hexe ihre Waffe nicht weggeworfen hat, bevor er den Boden berührt, tötest du das Mädchen.«

Rahn fuhr spürbar zusammen. Obwohl er hinter ihr stand, konnte Arri den entsetzen Blick spüren, den er dem Schamanen zuwarf. Das Messer an ihrer Kehle begann zu zittern.

Sarn senkte nun den knorrigen Stab, auf den er sich bisher betont auffällig gestützt hatte. Leas Blick folgte der Bewegung aus starren, aufgerissenen Augen, und Arri konnte sehen, wie sich die Gedanken hinter ihrer Stirn überschlugen. Ihr Schwert kam hoch, die blutbespritzte Klinge deutete nun genau auf den weißhaarigen alten Mann, aber Sarn senkte seinen Stock unerbittlich weiter, bis er sich so weit vorgebeugt hatte, dass er sich selbst in die Hocke sinken lassen musste, um den Stab nicht loszulassen. Arri konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber allein seine Haltung und die ruhige Art, die Bewegung - ganz langsam, aber ohne zu zögern - zu Ende zu führen, machte ihr klar, wie bitter ernst es ihm mit seiner Drohung war.

Und schließlich hatte er sich so weit vor und zur Seite gebeugt, wie er nur konnte, ohne direkt auf die Knie zu sinken, und der schweren Stab bekam das Übergewicht, entglitt seinen Fingern und fiel lautlos ins Gras.

»Rahn!«, sagte Sarn.

Arri verkrampfte sich und versuchte sich gegen den bevorstehenden Schmerz zu wappnen, als sie fühlte, wie der Fischer die Muskeln spannte. Ihre Mutter machte einen hastigen Schritt zurück und senkte das Schwert. »Nein!«, keuchte sie. »Rahn - nicht!«

»Dann gibst du auf?«, fragte Sarn.

Lea starrte Arri an, und erneut änderte sich etwas in ihrem Blick, und es war auch diesmal etwas, das Arri nicht deuten konnte und das sie zutiefst erschreckte. Ihr Nein war nicht das Nein, das Sarn hatte hören wollen.

»Es tut mir Leid, Arianrhod«, sagte Lea. »Bitte verzeih.«

Und damit fuhr sie auf der Stelle herum und war mit drei, vier weit ausgreifenden, schnellen Schritten in der Dunkelheit verschwunden. Arri fuhr erschrocken zusammen und starrte ihrer Mutter aus ungläubig aufgerissenen Augen hinterher, und auch Rahn schien für einen Moment so verblüfft zu sein, dass er das Messer sinken ließ und sich sein Griff spürbar lockerte. Vielleicht sogar weit genug, dass sie sich hätte losreißen können. Aber sie wagte es nicht. Ihr Knie schmerzte mittlerweile so stark, dass sie keine drei Schritte weit gekommen wäre. Und sie war auch viel zu überrascht, um auch nur ernsthaft daran zu denken.

Ihre Mutter... ließ sie im Stich? Aber was... was bedeutete das?

»Hinterher!«, brüllte Sarn. Er setzte dazu an, sich nach seinem Stock zu bücken, richtete sich dann aber mitten in der Bewegung auf und fuchtelte wild mit beiden Armen, als der Krieger keine Anstalten machte, seinem Befehl nachzukommen, sondern ihn nur hilflos anstarrte. »Worauf wartest du, du Feigling?«, brüllte Sarn. »Hinter ihr her! Packt sie!«

Tatsächlich machte der Krieger einen zögerlichen Schritt in die Richtung, in der Lea verschwunden war, blieb dann aber sofort wieder stehen und begann unbehaglich auf der Stelle zu treten. Seine Angst vor Sarn war unübersehbar; aber seine Furcht, sich ganz allein in der Dunkelheit an die Verfolgung einer Frau zu machen, die gerade vor seinen Augen zwei seiner Waffengefährten getötet, den dritten niedergeschlagen und auch ihm so übel mitgespielt hatte, dass er sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte, war augenscheinlich größer.

»Feigling!«, sagte Sarn verächtlich. Er bückte sich zum zweiten Mal nach seinem Stock, hob ihn auf und versetzte dem bewusstlosen Krieger im Herumdrehen einen derben Fußtritt, der seine Rippen knacken ließ. Vielleicht waren es auch Sarns Zehen, dachte Arri, denn als sich der greise Schamane zu ihr umdrehte, spiegelte sich auf seinem Gesicht zwar grenzenlose Wut, aber auch Schmerz, und er hatte die Lippen zusammengepresst und schien leicht zu humpeln. »Erbärmlicher Feigling!«, sagte er noch einmal. »Wäre ich nur ein bisschen jünger, dann würde ich die Hexe selbst jagen und zur Strecke bringen.«

Der Krieger fuhr sich unruhig mit dem Handrücken über den Mund. Er hatte Angst vor Sarns Zorn, das war unübersehbar, aber vermutlich überlegte er - völlig zu Recht -, dass es möglicherweise schlimm sein würde, den Zorn des Schamanen zu ertragen, die Entscheidung, Lea zu verfolgen, aber auf reinen Selbstmord hinauslief.

»Nun gut«, knurrte Sarn, als auch er endlich begriff, dass seine Autorität offenbar doch nicht schwerer wog als der pure Selbsterhaltungstrieb des Mannes. »Sie wird uns schon nicht entkommen. Immerhin«, fügte er mit einem bösen Lächeln und einer Geste auf das blutbesudelte, niedergetrampelte Gras hinzu, »haben wir ja eine gute Spur.« Er wandte sich zu Arri um.

»Freue dich nicht zu früh, Dämonenkind. Wir finden deine Mutter schon noch.«

»Glaubst du wirklich, dass das nötig ist?«, fragte Arri böse. Sarns Augen wurden schmal, aber Arri ließ ganz bewusst eine geraume Weile verstreichen, bevor sie weitersprach, und sie bemühte sich nicht nur, möglichst ruhig und selbstbewusst zu klingen, sondern legte ganz bewusst einen ebenso überheblichen wie höhnischen Ton in ihre Stimme. Sie hatte immer noch Angst, aber ihre Panik war dahin. Sie schämte sich fast für das, was sie gerade über Lea gedacht hatte.

»Ich an deiner Stelle würde mir die Mühe gar nicht machen, nach meiner Mutter zu suchen. Sie wird noch früher zu dir kommen, als dir lieb ist.«

Sarns Augen wurden noch schmaler, aber er sagte auch jetzt nichts, sondern presste nur die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen und starrte sie an.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass meine Mutter mich im Stich lässt, oder?«, fuhr sie spöttisch fort. Sie lachte. Da war plötzlich auch wieder jene lautlose, flüsternde Stimme in ihr, die ihr klarzumachen versuchte, dass sie auf dem besten Weg war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Aber sie konnte nicht aufhören.

»Ich hoffe nur, du hast wirklich ein so gutes Verhältnis zu deinen Göttern, wie du behauptest, Sarn«, fuhr sie fort. »Ich fürchte nämlich, du wirst ihnen eher gegenüberstehen, als du glaubst.«

In Sarns Augen blitzte die reine Mordlust, und für einen Moment war Arri vollkommen sicher, dass sie den Bogen überspannt hatte und er nun seinen Stock nehmen würde, um sie auf der Stelle zu erschlagen. Stattdessen maß er sie jedoch nur noch einmal mit einem langen, plötzlich verächtlichen Blick, dann straffte er sich und gab Rahn, der hinter ihr stand, einen Wink. »Rahn!«

Arri spannte die Muskeln an, denn sie rechnete fest damit, nun abermals brutal gepackt oder gleich von hinten niedergeschlagen zu werden. Dann aber wurde ihr ein grober Sack über Kopf und Schultern gestülpt, und für die nächsten anderthalb Tage sollte der schmutzige Stoff alles sein, was sie sah.

27

Der Raum war winzig, hatte nur ein einziges, kaum handbreites Guckloch, das ganz oben unter der aus schweren Balken gefertigten Decke angebracht war, und bestand - abgesehen von dieser Decke und dem Fußboden aus festgestampftem Lehm - vollkommen aus Stein. Arri hatte noch niemals ein Haus gesehen, das zur Gänze aus Stein erbaut war, aber dieses hier war es; zumindest der Raum, in den man sie gebracht hatte, vermutlich aber das ganze Haus.