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Das war ungewöhnlich genug. Doch mindestens ebenso ungewöhnlich wie das Baumaterial, aus dem die kahlen Wände bestanden, die sie umschlossen, war auch die Art seiner Verarbeitung. Mauern aus Stein oder auch zumindest zum Teil gemauerte Wände hatte sie bereits in Targans Haus gesehen, noch nie aber solche wie hier. Die Erbauer dieses sonderbaren Hauses hatten sich nicht damit begnügt, mehr oder weniger passende Steine aufeinander zu schichten und irgendwie miteinander zu verbinden; die Wände bestanden aus gewaltigen, sorgsam behauenen Blöcken, von denen jeder einzelne länger war als ihr ausgestreckter Arm und so dick wie vier übereinander gelegte Hände mit gespreizten Fingern. Was schon ein einzelner dieser gewaltigen Brocken wiegen mochte, das konnte sich Arri nicht einmal vorstellen, geschweige denn, wie man ihn hierher gebracht und so sorgsam bearbeitet hatte. Die Oberfläche der Steine war glatt wie raues Eis, und die Zwischenräume schienen kaum breit genug, um einen Fingernagel hineinzuschieben.

Das Allerungewöhnlichste vielleicht aber war die Tür. Arri hatte - abgesehen vom Haus der Bergleute und Händler - noch nie zuvor eine Tür gesehen, die diesen Namen wirklich verdiente. Die meisten waren kaum stabil genug, um einem Wintersturm zu trotzen. Diese Tür hier aber war mindestens ebenso massiv wie die Decke: schwere Balken, dicker als eine Handspanne, die ebenso sorgsam bearbeitet waren wie die Steine, aus denen die Wände bestanden, und auch fast ebenso schwer sein mussten. Es gab weder einen Riegel noch irgendeine andere Möglichkeit, diese Tür zu öffnen; zumindest nicht von dieser Seite.

Oder, um es anders auszudrücken: Sie war gefangen.

Nicht, dass sich in dieser Hinsicht etwas geändert hätte, ganz im Gegenteil. Verglichen damit, was sie in den zurückliegenden anderthalb Tagen durchgemacht hatte, ging es Arri jetzt geradezu gut. Immerhin hatte man ihr nicht nur die groben Stricke abgenommen, mit denen ihre Hände bisher auf dem Rücken zusammengebunden gewesen waren, sondern ihr auch den stinkenden Sack vom Kopf gezogen, der sie nicht nur vollkommen blind gemacht, sondern ihr auch nahezu ununterbrochen das Gefühl gegeben hatte, ersticken zu müssen. Und die allergrößte Erleichterung war, dass sie nicht mehr laufen musste.

Ihr geprelltes Knie schmerzte immer noch unerträglich, obwohl sich Arri mit dem Rücken an die Wand gelehnt und dabei so hingesetzt hatte, dass sie das Bein ausstrecken konnte. Auch wenn sie es wohlweislich nicht wagte, den Rock hochzuschieben und ihr Knie zu betrachten, spürte sie, dass es nicht nur gut auf das Doppelte seines gewöhnlichen Umfangs angeschwollen sein musste, sondern wohl auch in allen Farben des Regenbogens schimmerte. Dabei war die Verletzung nicht einmal besonders schlimm gewesen und nichts im Vergleich zu dem, was sie sich in der Mine und bei dem Brand in Targans Haus zugezogen hatte. Dass sie ihre verletzte Hand überhaupt noch bewegen konnte, verdankte sie wohl dem Verband, den ihre Mutter ihr angelegt und den sie vor ihrem Aufbruch abgenommen hatte. Dagegen war die Prellung am Knie eigentlich nur eine Kleinigkeit, die sie wahrscheinlich jetzt schon nicht mehr spüren würde, hätte sie nur die Gelegenheit gehabt, ihr Bein zu schonen.

Aber diese Zeit hatten ihr Rahn und die Krieger nicht gelassen.

Ganz im Gegenteil. Arri wusste zwar, dass es nicht stimmte, aber sie hatte trotzdem das hartnäckige Gefühl, dass sie noch immer in Bewegung war.

Nachdem man ihr den Sack übergestülpt und ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hatte, hatte sie jemand - vermutlich Rahn - grob umgedreht und ihr dann einen groben Stoß zwischen die Schulterblätter versetzt, der sie haltlos hatte stolpern lassen, und es kam ihr so vor, als hätten sie seit jenem Moment nicht mehr angehalten.

Selbstverständlich hatten sie es - sie hatten zweimal Rast gemacht, um zu schlafen und zu essen, wobei sie nur, was das Schlafen anging, auf ihre Kosten gekommen war; ihre Beteiligung am Essen hatte sich darauf beschränkt, den Kau- und Schmatzgeräuschen der Männer und dem Knurren ihres eigenen Magens zu lauschen, denn zu essen hatte man ihr nichts gegeben.

Und dennoch hatte sie das Gefühl, als wäre sie endlos und ohne Pause unterwegs gewesen.

Wie ihre Mutter immer gesagt hatte: Es spielte keine sonderliche Rolle, was wirklich gewesen war; wichtig war, was man daraus machte. Und ihr Körper machte das Schlimmste daraus. Ihr Knie pochte, und sie war überall wund, was an der Behandlung der letzten Tage liegen mochte oder, zumindest teilweise, an den Brandverletzungen, die sie sich zuvor zugezogen hatte. In jedem Fall gab es keine Stelle an ihrem Leib, die nicht wehtat. Alles in ihr schrie danach, einfach die Augen zu schließen und einzuschlafen, aber das konnte und wollte sie nicht. Sie musste herausfinden, wo sie war, und vor allem, wie sie von hier verschwinden konnte.

Was ihren Aufenthalt anging, so war sie sich ziemlich sicher; sie hatte das Wort Goseg mehr als einmal aufgeschnappt, während sie unterwegs gewesen waren. Und auch was das Verschwinden anging, hatte sie mindestens ein Dutzend guter Pläne, von denen etliche durchaus Aussichten auf Erfolg hatten, die unglückseligerweise aber auch alle eines voraussetzten: dass sie laufen konnte, und das noch dazu ziemlich schnell. So, wie sich ihr Knie anfühlte, würde sie in den nächsten Tagen nicht einmal mehr kriechen können, geschweige denn rennen. Hätte sie dem Schmerz gestattet, Gewalt über sie zu erlangen, dann hätte er ihr längst die Tränen in die Augen getrieben.

Arri spürte, dass sie auf dem besten Wege war, ganz genau das zu tun, ganz einfach, indem sie nur daran dachte, und so verscheuchte sie den Gedanken hastig.

Vielleicht nur, um sich abzulenken, drehte sie sich umständlich so im Sitzen um, dass sie die schmale Öffnung unter der Decke betrachten konnte. Ihr Knie quittierte die Bewegung mit einer Woge wütender Schmerzen, die bis in ihre Hüfte hinaufschossen, aber Arri biss die Zähne zusammen und achtete nicht weiter darauf. Das Guckloch dort oben war von grauem, unsicherem Zwielicht erfüllt, aber da sie weder die Sonne sehen konnte noch wusste, in welcher Himmelsrichtung dieser Spalt lag, konnte sie nicht sagen, ob es die Morgen- oder Abenddämmerung war. So, wie sie sich fühlte, musste es die Abenddämmerung sein; und zwar die Dämmerung des längsten Tages, den die Welt jemals gesehen hatte. Sie würde einfach abwarten müssen, ob dieses Licht nach einer Weile heller wurde oder in ein paar Augenblicken gänzlich erlosch.

Sie war also in Goseg. Arri dachte den Gedanken kühl und ohne die geringste Wertung. Eigentlich sollte sie dieses Wissen erregen, trotz allem, hatte sie doch zeit ihres Lebens davon geträumt, das sagenumwobene Heiligtum, von dem nicht nur Sarn allen Ernstes behauptete, es sei der Sitz der Götter, mit eigenen Augen zu sehen. Natürlich hätte sie sich niemals träumen lassen, als Gefangene hierher gebracht zu werden, aber dennoch hätte da zumindest eine Spur von Neugier in ihr sein sollen. Aber sie empfand... nichts. Nicht einmal die lautlos flüsternde Stimme ihrer Vernunft, die noch immer in ihr war und die versuchte, ihr die Zukunft in den schwärzesten nur möglichen Farben auszumalen, vermochte sie wirklich zu berühren. Es kam ihr so vor, als wäre in jener Nacht im Wald etwas in ihr erloschen und hätte nur eine harte, aber nicht mehr schmerzende Narbe auf ihrer Seele zurückgelassen.

Aber vielleicht war sie einfach zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen. Im Augenblick war sie damit zufrieden, keinen Sack mehr über dem Kopf zu haben und nicht mehr laufen zu müssen. Außerdem hatte sie schrecklichen Durst.

Arri versuchte, in eine einigermaßen erträgliche Haltung zu rutschen - was ihr nicht gelang -, löste widerwillig den Blick von dem vom grauen Zwielicht erfüllten Rechteck unter der Decke und fuhr sich mit der Zungenspitze über die rissigen Lippen. Sie hatte während der zurückliegenden anderthalb Tage auch nichts zu trinken bekommen. Jemand - sie nahm an, dass es Rahn gewesen war, konnte aber natürlich nicht sicher sein - hatte ihr ein paar Mal ein mit Wasser getränktes Mooskissen gegen das Gesicht gedrückt, sodass sie die Feuchtigkeit durch den Sack hindurch hatte aufsaugen können, was ihren allerschlimmsten Durst zwar gelöscht, aber auch einen widerwärtigen, fauligen Geschmack im Mund hinterlassen hatte, der einfach nicht vergehen wollte. Aber das war auch alles gewesen. Einen Moment lang überlegte sie, so laut zu rufen, bis jemand kam, der ihr Wasser bringen konnte, entschied sich aber dann dagegen. Schon der Gedanke, die Stimme zu heben, kam ihr mühsam vor - ganz abgesehen davon, dass sie vermutlich nur ein jämmerliches Krächzen hervorgebracht hätte - und so elend sie sich auch fühlen mochte, noch war ihr Stolz stärker als ihr Durst.