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»Und?«, fragte Arri. Worauf wollte er hinaus?

»Du verstehst es immer noch nicht, wie?«, seufzte Rahn. »Nicht einmal deine Mutter kann dich hier gewaltsam herausholen. Dazu brauchte sie ein ganzes Heer. Und wir waren einen ganzen Tag und fast zwei Nächte unterwegs, um hierher zu gelangen. Wenn deine Mutter also in der Lage wäre, dich zu befreien, dann hätte sie es wohl auf dem Weg hierher getan, statt abzuwarten, bis die Männer dich in Nors Festung brachten.«

Arri starrte ihn finster an. »Du willst mir Angst machen.«

»Ich will nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst«, sagte Rahn. »Deine Mutter wird nicht kommen, um dich zu retten. Jedenfalls nicht schnell genug.«

»Hast du nicht gerade erst lang und breit versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen?«, fragte Arri. Ob Rahn es nun beabsichtigt hatte oder nicht: Er hatte ihr Angst gemacht.

Weil er nämlich Recht hatte.

»Ich bin sicher, dass deine Mutter noch lebt.« Rahns Kleider raschelten, als er sich bewegte. »Aber sie wird nicht kommen, um dich zu retten.«

»Und warum erzählst du mir das?«, fragte Arri patzig. »Wirst du mir gleich anbieten, mich laufen zu lassen, wenn ich dafür alles tue, was du verlangst?«

Rahn seufzte. Der Laut klang... enttäuscht. »Selbst wenn ich so dumm wäre, das zu versuchen, würden wir nicht besonders weit kommen, fürchte ich.« Nach einem kurzen Moment und mit einem leisen Lachen, von dem Arri nicht sagen konnte, ob es nun boshaft oder einfach nur spöttisch klang, fügte er hinzu: »Außerdem: Warum sollte ich für etwas bezahlen, was ich mir sowieso jederzeit nehmen kann, wenn ich es will?«

Das Rascheln, das Arri schon mehrmals gehört hatte, wiederholte sich und wurde nun deutlicher, und gleichzeitig bewegte sich der Schatten heftiger. Arri schielte unauffällig über den Rand ihrer Schale in Rahns Richtung und spannte sich zugleich, falls er sich auf sie zu stürzen gedachte, aber sie wusste auch, wie wenig sie Rahn entgegenzusetzen hatte. Er war doppelt so stark wie sie - mindestens -, und dass all die kleinen hinterhältigen Tricks, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte, nicht jeden Unterschied in Kraft und Entschlossenheit wettmachen konnten, das hatte ihr Rahn vor gar nicht allzu langer Zeit schließlich auf ziemlich schmerzhafte Art und Weise deutlich gemacht.

Und selbst, wenn es anders gewesen wäre - wie sollte sie sich wohl gegen ihn verteidigen, hier drinnen und mit einem Bein, das schon unerträglich wehtat, wenn sie es nicht belastete? Trotzdem versuchte sie sich unauffällig in eine Lage zu bringen, in der sie ihm wenigstens symbolisch Widerstand leisten konnte. Im allerersten Moment ging es sogar, dann bohrte sich ohne jede Warnung eine glühende Nadel aus reinem Schmerz durch ihr Knie, und Arri schrie auf, ließ die Schale fallen und krümmte sich.

»Nicht so laut, habe ich gesagt!«, zischte Rahn. »Die Wachen!«

Zugleich sprang er endgültig auf die Füße und war mit einer einzigen, fließenden Bewegung bei ihr, noch immer kaum mehr als ein Schatten, aber jetzt immerhin ein Schatten mit einem Gesicht. Einem Gesicht, auf dem Arri zu ihrem Erstaunen einen Ausdruck echter Sorge zu erkennen glaubte.

Sie prallte erschrocken ein Stück weit von ihm zurück... wenigstens wollte sie es, doch der harte Stein in ihrem Rücken ließ es nicht zu. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

»Was hast du?«, fragte Rahn. Arri antwortete nicht, schon weil sie es gar nicht konnte, aber Rahn schien es wohl auch so zu erraten oder an ihrer unnatürlich verkrampften Haltung abzulesen. Er sah ihr einen Herzschlag lang aufmerksam ins Gesicht, dann wich er in der Hocke ein Stück zurück, beugte sich über sie und schob ihren Rock nach oben - deutlich höher, als nötig gewesen wäre, um ihr Knie in Augenschein zu nehmen, wie Arri fand.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte er, nachdem er ihr Bein einige Augenblicke lang - und Arris Meinung nach auch jetzt deutlich länger als notwendig, wobei sich seine Untersuchung ganz und gar nicht nur auf ihr Knie beschränkte - in Augenschein genommen hatte.

»Vielen Dank auch für die netten Worte«, gab Arri zurück. Dass ihre Stimme zitterte und sie dabei die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht vor Schmerz zu stöhnen, verdarb ihr zwar ein wenig die beabsichtigte Wirkung, aber sie fuhr trotzdem fort: »Es ist noch gar nicht so lange her, da hat es dir offensichtlich besser gefallen.«

Rahn tat so, als hätte er die Spitze nicht verstanden, und noch vor wenigen Tagen hätte Arri ihm das sogar geglaubt. Jetzt war sie nicht mehr sicher. Der Rahn, der zu ihr in diese Kammer gekommen war, schien nicht mehr viel mit dem tumben Fischer gemein zu haben, den sie zeit ihres Lebens gekannt hatte. Sie fragte sich plötzlich, ob sie ihn tatsächlich gekannt hatte.

Einen Moment später keuchte sie vor Schmerz auf und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als Rahn sich abermals vorbeugte und mit den Fingerspitzen, aber alles andere als vorsichtig über ihre angeschwollene Kniescheibe und das aufgedunsene Fleisch darunter tastete. Es tat so weh, dass ihr übel wurde.

»Entschuldige. Ich wollte dir nicht wehtun.« Rahn schüttelte den Kopf. »Aber es scheint nicht gebrochen oder ernsthaft verletzt zu sein. Ich verstehe zwar nicht so viel davon wie deine Mutter, aber ich glaube, es kommt wieder in Ordnung, wenn du dein Bein ein paar Tage schonst.«

»Wie schade«, presste Arri zwischen immer noch zusammengebissenen Zähnen hervor. »Dabei hatte ich doch vor, gleich morgen nach Sonnenaufgang einen langen Spaziergang zu machen.«

»Daraus wird wohl nichts«, gab Rahn in vollkommen ernstem Ton, dennoch aber mit einem angedeuteten Lächeln und einem mehr als angedeuteten, spöttischen Aufblitzen in den Augen zurück. »Es tut mir wirklich Leid.«

»Ja, ganz bestimmt«, erwiderte Arri gepresst. »Wie sehr du dich um mein Wohl gesorgt hast, das habe ich auf dem Weg hierher gemerkt. Vielen Dank auch noch mal.«

Rahn fuhr eindeutig schuldbewusst zusammen, und allein dass sie sah, wie sehr ihre Worte ihn trafen, ließ sie im gleichen Tonfall hinzufügen: »Aber was habe ich anderes erwartet, von einem Verräter wie dir?«

»Ich habe euch nicht verraten«, sagte Rahn. Dasselbe hatte er vorher schon gesagt, aber da war er nur eine Stimme ohne Körper gewesen, irgendwo verborgen in den Schatten auf der anderen Seite des Raumes. Nun sah sie in seine Augen, während er sprach, und da war keine Spur von Lüge, von Heimtücke oder auch nur Trotz. Er hörte sich verletzt an; ein Mann, dem man Unrecht getan hatte und den dies schmerzte.

»Natürlich nicht«, gab Arri zurück. »Ich bin sicher, du warst nur ganz zufällig dabei, als Sarn und seine Krieger uns eingeholt haben.«

»Ich habe auf euch gewartet«, erwiderte Rahn, »genau wie deine Mutter es von mir verlangt hatte. Als sie nicht gekommen ist, habe ich mir dann Gedanken gemacht. Es war Lea. Ich habe mein Wort nicht gebrochen.«

Arri presste die Lippen zusammen und starrte ihn an. Was sollte sie auch anderes tun? Er hatte ja Recht.

»Ich wollte zurückgehen, um nachzudenken und mir darüber klar zu werden, was ich tun sollte«, fuhr er fort, leise, aber plötzlich eindeutig im Tonfall trotziger Verteidigung. Er hob die Schultern. »Auf halbem Weg ist mir Sarn zusammen mit den Kriegern aus Goseg entgegengekommen. Er hat mich gefragt, wo ich herkomme, und ich habe die Wahrheit gesagt und geantwortet, dass ich im Haus deiner Mutter war, um mit ihr zu reden. Er hat mir befohlen, ihn und die Krieger zu begleiten. Was hätte ich wohl tun sollen - deiner Meinung nach?«

Arri fielen auf Anhieb ein Dutzend Dinge ein, die er besser getan hätte, statt sich dem Schamanen und den Kriegern anzuschließen, aber das tat nun nichts mehr zur Sache. Sie starrte Rahn nur weiter durchdringend und mit einem Zorn in den Augen an, den sie nur noch mit immer größerer Mühe aufrechterhalten konnte.