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Das Schlimme war, dass sie ihm auch diesmal insgeheim Recht geben musste. Es war ihre Mutter gewesen, die ihr Wort gebrochen hatte, nicht er. Was hatte sie zur Sarn gesagt, als er sie aufgefordert hatte, sich zu ergeben? Mein Wort gilt nicht? Arri hatte es für eine Finte gehalten, und wahrscheinlich war es das auch, aber vielleicht nicht nur. Was, wenn Lea in diesem Augenblick zum ersten Mal die Wahrheit gesagt hatte und ihr Wort wirklich nicht galt?

Natürlich war das Unsinn.

Arri schämte sich ihres eigenen Gedankens. Aber einmal gedacht, nahm er Bestand an, und auch wenn sie ihn mühsam niederkämpfte, so saß er doch wie ein Stachel in ihrer Seele und begann schon jetzt, ihre Gefühle zu vergiften. »Was willst du von mir, verdammt?«, fuhr sie ihn an.

Statt direkt zu antworten, blickte Rahn sie nur einen weiteren Moment lang auf diese unentschlossene, aber auch mehr denn je enttäuschte Weise an, dann hob er die Schultern, seufzte leise und glitt in der Hocke ein kleines Stück von ihr zurück. Seine linke Hand kroch unter den Umhang, den er sich lose um die Schultern geworfen hatte, und kam gleich darauf mit einem gut faustgroßen Beutel aus Leder wieder hervor. Als er ihn zu Boden setzte, hörte Arri das Geräusch von Wasser, das ihren Durst sofort wieder anfachte.

Rahn machte jedoch keine Anstalten, ihre Schale noch einmal zu füllen, was sie insgeheim beim Anblick des Wasserbeutels gehofft hatte. Stattdessen griff er noch einmal unter seinen Mantel und zog ein unordentlich zusammengeknülltes Tuch hervor, das er mit dem mitgebrachten Wasser tränkte, bevor er den Beutel sorgfältig wieder verschloss. Arri sah mit wachsender Verwirrung zu, wie er sich wieder vorbeugte und dann mit dem nassen Tuch über ihr Bein zu streifen begann. Die bloße Berührung tat schon wieder so weh, dass sie die Zähne zusammenbiss, aber es verging nur ein kurzer Augenblick, bis das kalte Wasser seine Wirkung zeigte: Der Schmerz erlosch nicht, wurde aber erträglicher, und sie fühlte, wie sich die verkrampften Muskeln in ihren Beinen ganz allmählich zu lockern begannen.

Rahn beließ es allerdings nicht dabei, nur ihr geschundenes Knie zu säubern und gleichzeitig zu kühlen. Als er damit fertig und offensichtlich mit den Ergebnissen seiner Bemühung zufrieden war, befeuchtete er das Tuch neu und säuberte ihren Unterschenkel bis zum Knöchel hinab, und dann machte er sich daran, auch ihr Bein oberhalb des Knies zu säubern. Was er sah, schien ihm ganz eindeutig zu gefallen, obwohl ihr Knie hässlich angeschwollen war und ihre Haut nicht nur hoffnungslos verdreckt und zerschunden und mit zahllosen Schrammen, Kratzern und verschorften Wunden übersät war und sie noch dazu so erbärmlich roch, dass es ihr selbst unangenehm war. Seine Bewegungen wurden sanfter. Seine Finger strichen wie zufällig über ihre Haut, während er mit dem Tuch kleine, kreisende Bewegungen über ihren Unterschenkel vollführte und dabei immer höher fuhr und so tat, als wolle er den Schmutz von ihrer Haut waschen. Und da war etwas in seinen Augen, was Arri zugleich erschreckte, wie es ihr auch auf eine Art gefiel, die sie noch viel mehr erschreckte.

Natürlich wäre Rahn nicht Rahn gewesen, wäre da nicht ein lüsternes Funkeln gewesen. Aber gleichzeitig war da noch mehr. Etwas, das sie bisher allenfalls an Dragosz gesehen hatte - wobei sie nicht einmal sicher war, dass es tatsächlich da gewesen war oder sie es nur gesehen hatte, weil sie es hatte sehen wollen.

Aber doch nicht... Rahn!

Arri verscheuchte nicht nur fast erschrocken den Gedanken, sondern schlug auch mit einer übertrieben zornigen Bewegung seine Hand beiseite. »Lass das!«, sagte sie scharf. »Wenn du mich anrührst, werde ich schreien!«

»Um was zu erreichen?«, fragte Rahn beleidigt, zog aber trotzdem gehorsam die Hand zurück, klaubte dann nach einem weiteren Moment, in dem er sie ebenso kühl wie abfällig gemustert hatte, Wasserbeutel und Lappen auf und wich mit einer ungeschickt aussehenden, froschartigen Bewegung in der Hocke um zwei oder drei Schritte vor ihr zurück, sodass sie sich ganz eindeutig nicht mehr in seiner Reichweite befand. Doch nun konnte sie auch sein Gesicht nicht mehr erkennen, er war nun wieder - fast - eine Stimme ohne Körper; etwas, das sie plötzlich so sehr verunsicherte, dass sie sich um ein Haar bei ihm entschuldigt und ihn gebeten hätte, wieder näher zu kommen.

Und vielleicht hätte sie es tatsächlich getan, wäre er nicht noch abfälliger fortgefahren: »Die Wachen rufen?« Er lachte. »Was glaubst du, was sie mit dir tun würden, was ich ganz bestimmt nicht tue?«

»Glaubst du, das macht mir Angst?«, fragte Arri patzig. Natürlich machte es ihr Angst. Die bloße Vorstellung war schon fast mehr, als sie ertragen konnte. Trotzdem fuhr sie in noch höhnischerem, ganz bewusst verletzend gemeintem Ton fort: »Ruf doch deine Wachen, wenn du glaubst, dass mich das beeindruckt. Sollen sie doch mit mir machen, was sie wollen! Das ist mir noch immer hundertmal lieber, als wenn du es tust.«

Sie konnte Rahns Gesicht nicht sehen, und er gab auch nicht den geringsten Laut von sich, aber sie spürte, wie sehr ihn ihre Worte trafen. Für einen Moment wurde es sehr still. Mit dem nächsten Atemzug bedauerte sie ihre Worte so sehr, dass sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte, und wäre auch nur noch ein einziger, weiterer Moment verstrichen, so hätte sie Rahn um Verzeihung gebeten und ihm zu erklären versucht, dass es nur Angst und Unsicherheit und kindischer Trotz waren, die sie das hatten sagen lassen.

Rahn gab ihr diesen Moment nicht. Gerade als Arri dazu ansetzte, etwas zu sagen, stand er mit einem Ruck auf, beugte sich dann noch einmal - sehr schnell - herab, um die beiden Schalen aufzusammeln, in denen er ihr Wasser und Essen gebracht hatte, und wich dann mit einer zornigen Bewegung endgültig in die Dunkelheit zurück. Sie konnte hören, wie er sich an der Tür zu schaffen machte.

»Wenn es mir gelingt, mich an den Wachen vorbeizuschleichen, dann bringe ich dir in der nächsten Nacht wieder etwas zu essen«, sagte er. »Aber verlass dich besser nicht darauf. Nors Männer sind wachsam.« Und damit öffnete er die Tür. Arri sah für einen winzigen Augenblick den schmalen Ausschnitt eines wolkenverhangenen Nachthimmels und flackernde, düsterrote Glut, die irgendwo von links kam, dann schlüpfte er durch den Spalt hinaus, und die Tür schloss sich wieder hinter ihm. Sie hörte noch, wie etwas mit einem schweren Geräusch vorgelegt wurde, vermutlich ein Riegel, dann war sie wieder allein.

Vollkommene Dunkelheit hüllte sie ein.

Arri saß lange, sehr, sehr lange in dieser absoluten Schwärze da, und sie merkte nicht einmal selbst, wie sie sich in den Schlaf weinte.

28

Arri bekam hinlänglich Gelegenheit, sich über ihre eigenen, dummen Worte zu ärgern, aber auch über das nachzudenken, was Rahn gesagt hatte - und so ganz nebenbei auch ihr Knie auszukurieren. Sie erwachte am nächsten Morgen erst eine ganze Weile nach Sonnenaufgang, und sie fühlte sich unausgeschlafen und müder als zuvor und mindestens so hungrig und durstig wie vor Rahns Besuch. Trotz der hämmernden Schmerzen in ihrem Bein quälte sie sich auf die Füße, humpelte zur Tür, hämmerte mit den Fäusten dagegen und schrie so lange, bis sie nahezu heiser war und ihre Kehle schmerzte, aber niemand kam, um nach der Ursache des Lärms zu sehen oder sich gar nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Erst gegen Mittag ging die Tür ihres Gefängnisses auf, und zwei in schwarze Fellmäntel gekleidete Krieger traten ein. Während sich der eine drohend mit seinem Speer aufbaute und dabei ein so grimmiges Gesicht machte, dass Ari wahrscheinlich laut aufgelacht hätte, wäre da nicht zugleich etwas in seinen Augen gewesen, was ihr klarmachte, dass er nur nach einem Vorwand suchte, um sie auf der Stelle zu töten, brachte ihr der andere zwei flache hölzerne Schalen, die er so weit von ihr entfernt auf den Boden stellte, wie es hier drinnen überhaupt nur möglich war, bevor die beiden sich fast fluchtartig wieder zurückzogen und die Tür hinter sich verrammelten.