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Ihre eigene Hütte - ihr eigenes Haus, verbesserte sich Arri in Gedanken - war bei weitem nicht mehr das größte in der Umgebung, in dem Menschen ohne Vieh lebten, und ihr zweites Zimmer verdiente diesen Namen kaum. Es war ein winziger Verschlag, in dem ihre Mutter alles aufbewahrte, was nicht tagtäglich gebraucht wurde oder was von besonderem Wert für sie war. Durch die schmalen Ritzen des unverputzten Weidengeflechts drang nur sehr wenig staubiges Licht, doch Arri hätte selbst bei vollkommener Dunkelheit gefunden, wonach sie suchte. Der aus grobem Leder gefertigte Beutel lag auf dem kleinen Tischchen unmittelbar neben dem Eingang. Sein Inhalt klimperte leise, als Arri ihn hochhob und ihrer Mutter brachte.

Lea beachtete sie gar nicht, sondern bedeutete ihr nur mit einer Geste weiterzumachen, sodass sie sich rasch zu der Feuerstelle in der Mitte des Raumes begab, wo sie sich auf die Knie herabsinken ließ. Während sie bedächtig trockene Blätter und Reisig herunterrieseln ließ, blies sie behutsam in die nahezu erloschene Glut, um das Feuer neu anzufachen. Im allerersten Moment wollte es ihr nicht richtig gelingen, und sie bekam schon fast Angst, es übertrieben zu haben und das Feuer aus- statt anzublasen, was nichts anderes als die zeitraubende und mühsame Prozedur für sie bedeutet hätte, es völlig neu zu entzünden.

Dann aber fing eines der trockenen Blätter an zu schwelen, und kurz darauf leckte ein erstes, noch winziges Flämmchen an dem dürren Reisig empor. Arri atmete innerlich auf. Sie hasste es, Feuer zu machen. Die sicherste Methode war, einen runden Holzstab so lange zwischen den Handflächen schnell hin und her zu rollen, bis durch die Reibung ein winziger Glutfunke auf einem Feuerschwamm entstand, und es gelang ihr auch fast immer auf Anhieb. Aber auf Anhieb konnte dennoch eine geraume Zeit bedeuten, und manchmal schmerzten ihre Hände hinterher so sehr, dass sie sie einen halben Tag lang nicht richtig benutzen konnte.

Inzwischen hatte ihre Mutter ihre Frage noch einmal wiederholt, während sie Grahl dabei half, seinen Bruder vollends aus dem schweren Fellumhang zu schälen und mit mehr oder weniger sanfter Gewalt auf die Matratze hinabzudrücken. Kron wehrte sich schwächlich; vielleicht aus einem ebenso absurden wie falschen Stolz heraus, vielleicht fieberte er aber auch bereits so stark, dass er gar nicht mehr richtig begriff, was er tat.

»Wir sind angegriffen worden«, wiederholte Grahl.

»Das weiß ich«, antwortete Lea unwillig. »Was ist mit seinem Arm? Wann ist es passiert und wo?«

»Ein Schwerthieb«, antwortete Grahl.

Arri fuhr so erschrocken herum, dass sie eine unbedachte Bewegung machte und das Feuer um ein Haar tatsächlich erstickt hätte. Geradezu entsetzt starrte sie den Jäger an, und auch ihre Mutter hatte mit einem Ruck den Kopf gehoben und bedachte Grahl mit einem Ausdruck, von dem Arri nicht sicher war, ob er Zweifel oder tiefes Erschrecken bedeutete.

»Ein Schwerthieb?« Arris Herz begann zu klopfen. Die einzigen Schwerter, die sie außer dem Zauberschwert ihrer Mutter je gesehen hatte, gehörten Nors Kriegern - aber die Wächter Gosegs waren ihre Verbündeten!

»Es waren Fremde«, antwortete Grahl. »Zwei Tage von hier, im Osten. Wir waren hinter Wildschweinen her und hatten gerade einen besonders großen Keiler erlegt, als sie auftauchten. Zuerst war es nur einer. Ans wollte ihn verjagen, weil wir dachten, er sei von einem anderen Stamm und wolle uns unsere Beute streitig machen.«

Lea sagte nichts dazu, sondern legte nur fragend den Kopf ein wenig mehr auf die Seite, und auch ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Arri konnte sich gut vorstellen, was hinter ihrer Stirn vorging. Vermutlich das Gleiche wie hinter ihrer eigenen. Grahl und seine Brüder waren nicht unbedingt dafür bekannt, ein freundliches Wesen zu haben. Ganz bestimmt hatte Grahls Bruder diesen Fremden nicht einfach nur freundlich aufgefordert, wieder zu gehen.

»Und?«, fragte Lea, als der Jäger nicht von sich aus weitersprach, sondern auf seinen Bruder herabblickte und dabei die rechte Hand im Schoß zur Faust ballte.

»Er ist gegangen«, antwortete Grahl, »und wir haben angefangen, den Keiler auszunehmen. Aber nach einer Weile ist er zurückgekommen, und mit ihm fünf oder sechs andere. Sie haben uns sofort angegriffen. Wir haben uns gewehrt, so gut wir konnten, aber es waren zu viele, und sie hatten Schwerter.«

»Schwerter?«, vergewisserte sich Lea.

Grahl nickte düster. »Es waren Krieger, keine Jäger. Ans haben sie erschlagen. Und auch ich wäre tot, wenn mein Bruder sich nicht dazwischengeworfen hätte. Der Hieb, der ihn getroffen hat, galt mir. Danach sind wir geflohen. Sie haben uns verfolgt, aber wir waren schneller und konnten ihnen entkommen.«

Leas Gesichtsausdruck ließ noch immer nicht erkennen, ob sie diese Geschichte nun glaubte oder nicht. Arri jedenfalls fiel es schwer. Sie zweifelte nicht daran, dass sie im Kern der Wahrheit entsprach, aber ihr war ebenso klar, dass Grahl das eine oder andere wohl nicht ganz so darstellte, wie es sich tatsächlich abgespielt hatte. Fünf oder sechs Krieger mit Schwertern gegen drei Jäger, die nur Speere und einfache Messer hatten? Kaum.

»Was waren das für Männer?«, fragte Lea schließlich. »Konntest du erkennen, zu welchem Stamm sie gehören?«

Grahl schüttelte heftig den Kopf. »Keinem, den ich kenne«, antwortete er. »Sie sahen nicht aus wie...« Er suchte sichtlich nach Worten. »Wie Leute von hier«, sagte er schließlich. »Es waren Riesen. Der Kleinste von ihnen war größer als ich, und sie trugen Fellkleider, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe, und sonderbaren Schmuck.«

Ja, und gleich wird er erzählen, dass Blitze aus ihren Augen geschossen sind und die Erde zittert, wenn sie laufen, dachte Arri spöttisch. Sie hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen oder sich ihre Zweifel auch nur anmerken zu lassen, aber sie glaubte dennoch zu spüren, dass es ihrer Mutter bei Grahls Worten nicht sehr viel anders erging als ihr. Sonderbarerweise wirkte sie zugleich aber auch sehr besorgt.

Sie ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern öffnete den Lederbeutel, den Arri ihr gebracht hatte, und kramte ein kleines Messer mit einer Bronzeklinge hervor, die kaum länger als ein Fingernagel war, dafür jedoch so scharf geschliffen, dass man sich fast schon daran schneiden konnte, wenn man sie nur ansah. »Das war vor zwei Tagen, sagst du?«, fragte sie, während sie sich über Kron beugte und mit einem raschen Schnitt die grobe Schnur durchtrennte, mit der er seinen verletzten Arm am Leib festgebunden hatte. Der Jäger stöhnte und warf den Kopf hin und her, und Lea gab seinem Bruder mit einer entsprechenden Geste zu verstehen, dass er ihn festhalten solle.

»Drei, wenn die Sonne untergeht«, antwortete Grahl. »Seither waren wir auf der Flucht vor ihnen. Wir hatten Angst, dass sie uns noch weiter verfolgen könnten.«

»Und da habt ihr euch gedacht, es ist das Beste, ihr kommt hierher zurück und lockt diese gewaltigen fremden Krieger direkt ins Dorf«, seufzte Lea kopfschüttelnd. Grahl wirkte betroffen, sagte aber nichts dazu, und auch Arri konnte plötzlich nur hoffen, dass seine Schilderung der unheimlichen Angreifer tatsächlich so hoffnungslos übertrieben war, wie sie vermutete. Ein halbes Dutzend Krieger, wie Grahl sie beschrieben hatte, noch dazu mit Schwertern und womöglich anderen, gefährlicheren Waffen ausgestattet, konnte es leicht mit dem gesamten Dorf aufnehmen. Arris Blick streifte das Schwert, das hinter ihrer Mutter an der Wand hing, und sie berichtigte sich in Gedanken. Na gut: fast mit dem gesamten Dorf.