Und das war dann auch schon so ziemlich alles, was an diesem Tag geschah. Die beiden Schalen enthielten ein paar Schlucke brackig schmeckendes Wasser und eine kleine Portion desselben Breis, den Rahn ihr in der vergangenen Nacht gebracht hatte; gerade genug, um ihren Magen wieder daran zu erinnern, dass er ja eigentlich schon beim Aufwachen geknurrt hatte, und auf gar keinen Fall genug, um ihren Hunger zu stillen.
Niemand kam, um die leeren Schalen zu holen, und es kam auch niemand, um ihr eine zweite Mahlzeit oder auch nur einen Schluck Wasser zu bringen.
Rahn kehrte erst lange nach Dunkelwerden wieder zu ihr zurück. Arri hatte schon ungeduldig auf ihn gewartet, und er hatte die Tür noch nicht einmal ganz hinter sich geschlossen, da bestürmte sie ihn schon mit Fragen, in die sie die schüchternen Versuche einer halbherzigen Entschuldigung einfließen ließ. Rahn sagte jedoch nichts dazu. Er machte auch keine Anstalten, irgendeine der Fragen zu beantworten, mit denen sie ihn überfiel, und er tat ihr auch nicht den Gefallen, auf ihren flehenden Ton und die fast verzweifelten Blicke zu reagieren, die sie ihm zuwarf, sondern stellte nur die beiden Schalen, die er mitgebracht hatte, vor ihr auf dem Boden ab, hob stattdessen die beiden geleerten Behältnisse, die von ihrem kümmerlichen Mittagsmahl übrig geblieben waren, auf und verschwand dann ohne ein weiteres Wort.
Arri sah ihm mit einer Mischung aus Enttäuschung und Zorn hinterher, wobei der Zorn zwar zum allergrößten Teil ihr selbst galt, ein bisschen aber auch ihm. Sie hatte wirklich Zeit genug gehabt, um einzusehen, wie dumm und kindisch sie sich benommen hatte. Ganz gleich, was Rahn auch wirklich im Schilde führen mochte: Er war vermutlich der einzige Verbündete, den sie hier in Goseg und möglicherweise sogar auf der ganzen Welt hatte, und es war, wenn schon nicht undankbar, so doch zumindest dumm, es sich mit ihm zu verderben. Er hatte jedes Recht, beleidigt zu sein.
Zugleich ärgerte sich Arri aber auch über sein Verhalten. Er musste doch spüren, wie Leid ihr die Worte von gestern Nacht taten! Aber statt die ausgestreckte Hand zu ergreifen, die sie ihm hinhielt, maß er sie nur mit einem kühlen Blick und ließ sie dann ohne ein einziges Wort wieder allein.
Arri betätigte sich eine Weile damit, nach Kräften zu schmollen, dann aber erinnerte sie ihr knurrender Magen wieder daran, warum er eigentlich gekommen war, und sie humpelte zu ihrem Platz unter dem Fenster zurück und machte sich über die beiden Schalen her. Genau wie in der vergangenen Nacht hatte er ihr auch jetzt wieder eine Schale mit Wasser gebracht und eine zweite, etwas größere, die mit dem Arri schon zur Genüge bekannten grauen Brei gefüllt war. Sie hatte sich schon an den eigentlich gar nicht vorhandenen Geschmack gewöhnt und war diesmal klug genug, sich etwas von dem Wasser aufzusparen, um mit dem letzten Schluck das klebrige Zeug aus ihrem Mund zu spülen. Als sie fertig war, waren die beiden Schalen so säuberlich geleert, als hätte sie sie gerade mit großer Sorgfalt gereinigt, aber sie hatte immer noch Durst, und auch ihr Magen knurrte kein bisschen weniger als zuvor.
Und so ging es weiter. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Arri fiel irgendwann in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie immer wieder entweder von Albträumen oder einem heftig pochenden Schmerz in ihrem Knie und manchmal von beidem zugleich hochfuhr. Auch der darauffolgende Tag bot keine andere Unterbrechung als den Besuch der beiden Krieger, die kamen, um ihr Wasser und Nahrung zu bringen. Arri versuchte jetzt nicht mehr, sie anzusprechen, sondern zog sich gehorsam in ihre Ecke unter dem Fenster zurück und stand schweigend da, während der eine Krieger sie mit seinem Speer bedrohte und der andere die beiden leeren Schalen gegen volle austauschte. Sie hatte jetzt keine Angst mehr. Solange sie keine unbedachte Bewegung machte oder die Männer gegen sich aufbrachte, das spürte sie, würde ihr nichts geschehen.
Stattdessen betrachtete sie die beiden aufmerksam. Der Krieger mit dem Speer kam ihr vage bekannt vor. Im allerersten Moment überlegte sie, ob er zu denen gehörte, gegen die ihre Mutter gekämpft hatte, und ob die Erinnerung an diesen Kampf der Grund für die noch immer schwelende Wut in seinem Blick war. Dann aber meinte sie, ihn tatsächlich schon einmal gesehen zu haben, allerdings nicht vor zwei Nächten draußen jenseits des verbotenen Waldes, sondern vor sehr viel längerer Zeit. Doch sie vermochte sich nicht wirklich an ihn zu erinnern und fragte sich, woher der Hass in seinen Augen kam.
Ein weiteres Rätsel, auf das sie - zumindest für die nächsten Tage - keine Antwort fand.
Auch dieser Tag verging, ohne dass auch nur irgendetwas geschah, und schon lange, bevor das Licht in dem kleinen Spalt unter der Decke wieder zu verblassen begann, lernte Arri einen neuen und ihren vielleicht bisher ärgsten Feind hier in Goseg kennen: die Langeweile. Sie war allein mit sich und ihren Gedanken, und so sehr sie auch versuchte, es nicht zu tun, kreisten eben diese Gedanken doch um nichts anderes als um die Frage, was sie hier erwarten würde.
Nicht eine einzige der Antworten, die sie sich selbst auf diese Frage gab, gefiel ihr.
Sie war davon ausgegangen, dass man sie rasch zu Sarn oder auch gleich zu Nor bringen würde, dem uneingeschränkten Herrscher nicht nur über dieses Heiligtum, sondern auch über das Land und alle Dörfer im weiten Umkreis, und sie hatte sich diesen Moment - natürlich - hundertfach und in den schwärzesten Farben ausgemalt. Aber rein gar nichts geschah. Lange Zeit, nachdem es dunkel geworden war, schlich sich Rahn wieder in ihre Kammer, brachte ihr zu essen und Wasser, und er ging auch diesmal wieder, ohne ein einziges Wort gesagt oder auch nur eine ihrer Fragen beantwortet zu haben. Arri schlief auch in dieser Nacht mit knurrendem Magen, schrecklichem Durst und dumpfem Schmerz im Knie ein.
Auf diese Weise verging auch noch der nächste Tag. Die Krieger kamen und brachten ihr - viel zu wenig - Essen und Wasser, und Arri verbrachte die Zeit bis zum Sonnenuntergang damit, das graue Rechteck unter der Decke anzustarren und sich selbst in Gedanken mit einer erstaunlichen Vielfalt von Flüchen, Verwünschungen und Beleidigungen zu belegen, von denen sie zum Teil selbst nicht gewusst hatte, dass sie sie überhaupt kannte.
Endlich wurde es dunkel. Das graue Herbstlicht hinter dem Fenster wich dem mit zahllosen, hell funkelnden Sternen übersäten Nachthimmel der ersten wolkenlosen Nacht, seit man sie hierher gebracht hatte. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis Rahn kam, und heute, das nahm sie sich fest vor, würde sie ihn nicht wieder einfach so gehen lassen. Immerhin hatte er jetzt zwei Nächte Zeit gehabt, den zu Unrecht Verletzten zu spielen, und was genug war, war genug. Wenn sie ihren Stolz herunterschlucken musste, um ihn zum Reden zu bringen, nun, dann würde sie das eben tun.
Allein - Rahn kam in dieser Nacht nicht.
Die Zeit schlich dahin, und wie immer, wenn man auf ihr Verstreichen wartete, schien sich plötzlich jeder Atemzug zu einer kleinen Ewigkeit zu dehnen.
Arri stand mit trotzig verschränkten Armen und gegen die Wand gelehnt da, starrte den Sternenhimmel über dem Fenster an und wartete darauf, dass die Tür aufging und Rahn hereinkam, aber er kam nicht.
Der Nachtzenit war bereits überschritten.
Rahn kam immer noch nicht.
Arri wartete weiter, bis ihr Rücken und vor allem ihr Bein so heftig schmerzten, dass sie es einfach nicht mehr aushielt und sich wieder in ihrem Winkel unter dem Fenster zusammenkauerte. Irgendwann verlangten Erschöpfung und Müdigkeit ihren Preis, und sie schlief ein, um am nächsten Morgen mit schmerzendem Kopf und Nacken und vollkommen niedergeschlagen wieder aufzuwachen; und so hungrig, dass ihr schon beim bloßem Anblick der beiden leeren Schüsseln von gestern beinahe übel wurde.