Aber warum? Was hatte sie ihm getan?
Sie wartete, bis ihr Herz aufgehört hatte, wie verrückt von innen gegen ihre Rippen zu hämmern, dann ließ sie sich nach vorn auf beide Hände und das unversehrte Knie sinken und kroch zur Tür, um die Schale aufzuheben, die Jamu im Hinausgehen umgestoßen hatte.
Die Schale war nahezu leer und ihr ohnehin kümmerlicher Inhalt auf dem Boden verschüttet.
Wenigstens hatte er ihr das Wasser gelassen. Einen Tag ohne Essen würde sie aushalten, aber einen ganzen Tag ohne Wasser - und vielleicht auch noch eine ganze Nacht, falls Rahn auch heute nicht kam - vielleicht nicht. Arri war mittlerweile fast sicher, dass man ihr nicht zufällig nur gerade so viel zu essen und zu trinken gab, dass sie am Leben blieb, aber ganz bestimmt nicht mehr. Ohne das bisschen zusätzliche Essen, das Rahn ihr heimlich gebracht hatte, wäre sie vielleicht schon jetzt kaum noch in der Lage gewesen, aus eigener Kraft zu stehen. Wollte man sie vielleicht aushungern, um sicherzugehen, dass sie auch ganz bestimmt auf die Knie fiel, wenn man sie irgendwann zu Nor brachte?
Vorsichtig und mit beiden Händen ergriff sie die Wasserschale und trank einen großen Schluck. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie besser daran täte, sich die paar jämmerlichen Schlucke einzuteilen, denn es konnte gut sein, dass es bis zum nächsten Tag dauern würde, bevor sie wieder etwas bekam. Aber Vernunft war eine feine Sache, so lange man sie sich leisten konnte, und sie pflegte rasch an Macht zu verlieren, wenn man nur durstig genug war; und Arri war mittlerweile sehr durstig. Sie zögerte noch einen letzten Atemzug, dann zuckte sie seufzend mit den Schultern und leerte die Schale bis auf einen winzigen Rest, den sie sich für den Moment aufsparen wollte, wenn der Durst gar zu übermächtig würde.
Anschließend hob sie die umgekippte Schale Brei auf und leckte den kümmerlichen Rest heraus, der darin verblieben war, und sie ertappte sich tatsächlich bei der ernsthaften Überlegung, den verschütteten Brei vom Boden noch irgendwie aufzusammeln, um ihn sich einzuverleiben. Die Vorstellung war ziemlich widerlich, aber vielleicht letzten Endes nicht so schlimm wie der Gedanke, bis zum nächsten Tag hungern zu müssen.
Doch noch war ihr Stolz stärker als der Hunger, der in ihren Eingeweiden wühlte, und sie war nicht einmal sicher, dass der Krieger die Schale nicht sogar auf Nors ausdrücklichen Befehl hin umgestoßen hatte, und zwar aus keinem anderen Grund als dem, sich davon zu überzeugen, wie weit ihr Wille und ihr Stolz schon gebrochen waren.
Auch dieser Tag endete, ohne dass noch irgendetwas geschah oder jemand kam, und als die Nacht hereinbrach und die Zeit verrann und die Tür ihres Gefängnisses nicht aufging, um Rahn einzulassen, wuchs Arris Verzweiflung ins Grenzenlose. Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht. Vielleicht wollte man sie ja tatsächlich verhungern lassen, nur eben nicht schnell und in wenigen Tagen, und die Männer brachten ihr ganz bewusst gerade so viel zu essen, dass sich ihre Qual schier endlos lange dahinziehen musste.
Natürlich war dieser Gedanke vollkommen unsinnig. Wenn Nor sie tatsächlich quälen wollte, dann standen ihm dazu sicher ganz andere, wirkungsvollere und vor allem brutalere Methoden zur Verfügung. Unglückseligerweise war es gerade diese Überlegung, die ihre Phantasie dazu anregte, sich in vollkommen übertriebene Schreckensbilder hineinzusteigern.
Es musste schon wieder auf den Nachtzenit zugehen, als sie ein Geräusch an der Tür hörte und hochfuhr. Sie hatte es selbst nicht gemerkt und war ganz im Gegenteil davon überzeugt gewesen, die ganze Zeit über hellwach dagesessen und auf das Verstreichen der Zeit gewartet zu haben. So ganz konnte das nicht stimmen, denn sie hatte zwar das Geräusch der Tür gehört, aber es war das Geräusch, mit dem sie geöffnet wurde, damit jemand den Raum verlassen konnte.
»Rahn?«, fragte sie. Der Schatten vor der Tür zögerte fast unmerklich, und Arri setzte sich erschrocken auf und sagte noch einmal und lauter: »Rahn? Bitte bleib!«
Tatsächlich erstarrte die Gestalt, die sich schwarz auf schwarz vor dem Hintergrund eines jetzt wieder wolkenverhangenen Nachthimmels abzeichnete, drehte sich dann zu ihr um, und die Dunkelheit auf der anderen Seite des Raumes wurde wieder so vollständig, als hätten Mardans Schattendämonen ihre dunklen Schleier über die Türöffnung gezogen, statt dass nur jemand die Tür mit einem kaum hörbaren Knarren wieder schloss.
»Ich wusste nicht, dass du wach bist«, sagte Rahn.
Arri atmete erleichtert auf. Sie war sich nicht ganz sicher gewesen, ob es sich bei dem Eindringling wirklich um Rahn handelte. »Ich habe nicht geschlafen«, sagte sie mit einer Stimme, die belegt und schlaftrunken genug klang, um die Behauptung selbst in ihren Ohren einfach nur lächerlich klingen zu lassen.
»Natürlich nicht«, antwortete Rahn denn auch unüberhörbar spöttisch, während er mit leise raschelnden Bewegungen näher kam. »Ich nehme an, du schnarchst immer so laut, dass man es noch auf der anderen Seite des Hauses hören kann, wenn du wach bist.«
»Also gut, vielleicht ein bisschen«, gestand Arri zerknirscht.
Rahn lachte. »Ach? Und wie schläft man ein bisschen?« Sie sah, wie er sich halb in Richtung der Tür umdrehte und den Kopf auf die Seite legte, wie um zu lauschen, und als er sich wieder direkt an sie wandte und fortfuhr, war seine Stimme leiser geworden und klang auch deutlich unwillig. »Was willst du?«
Arri überlegte sich ihre Antwort sehr genau. Sie konnte es sich auf gar keinen Fall leisten, ihn noch einmal zu verjagen oder ihn einfach nur gehen zu lassen, ohne mit ihm geredet zu haben, und dies ganz und gar nicht nur, weil er möglicherweise der Einzige war, der noch zwischen ihr und einem qualvollen Hungertod stand. Während all der endlosen Zeit, die sie auf ihn gewartet hatte, hatte sie sich ganz genau das immer und immer wieder eingeredet, doch nun begriff sie, dass das nicht stimmte. Auch wenn sie sich selbst vergebens fragte, warum eigentlich - Rahn bedeutete ihr etwas. Sie wusste nicht was, und sie verstand dieses Gefühl nicht im Geringsten, aber es war so.
»Mit dir reden«, sagte sie.
»Reden?«, wiederholte Rahn. »Und worüber? Ich meine: Im Grunde hast du bereits alles gesagt, was es zu sagen gibt.«
»Rahn, bitte«, sagte Arri. »Es tut mir Leid. Wirklich. Ich wollte dir nicht...«
»... Gemeinheiten an den Kopf werfen?«, fiel ihr Rahn ins Wort und beantwortete seine eigene Frage sogleich mit einem heftigen Kopfschütteln. »Doch. Ganz genau das wolltest du.«
Seine Worte, vielleicht eben deshalb, weil sie so viel Wahrheit enthielten, ärgerten Arri schon wieder so sehr, dass ihre Vernunft gerade noch mit Mühe und Not die Oberhand behielt und sie daran hinderte, mit einer neuen Bosheit zu antworten. Sie hob stattdessen nur die Schultern und versuchte, möglichst schuldbewusst auszusehen - aber nicht, ohne mit zusammengekniffenen Augen nach dem Essen Ausschau zu halten, dass er wahrscheinlich mitgebracht hatte.
»Also?«, fragte er. »Was willst du? Ich habe nicht viel Zeit. Die Wachen sind misstrauisch geworden. Hast du ihnen etwas erzählt?«
»Nein!«, antwortete Arri erschrocken. Warum sollte sie etwas so Dummes tun?
»Also, was willst du dann?«
»Ich... ich wollte mich bei dir entschuldigen.« Die Worte schienen Arri nur widerwillig über die Lippen zu kommen. »Was ich gesagt habe, tut mir Leid«, fuhr sie leise fort. »Es war dumm.«
»Ja«, stimmte ihr Rahn zu. »Das war es.« Plötzlich lachte er leise auf. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich nichts anderes von dir erwartet. Schließlich bist du die Tochter deiner Mutter.«
Was sollte das denn jetzt schon wieder heißen?, fragte sich Arri. »Meine Mutter ist nicht dumm!«
»Nein«, sagte Rahn. »Aber sie neigt dazu, alle anderen für dumm zu halten - und sie auch so zu behandeln.« Er seufzte. »Ich nehme an, ich erzähle dir nichts Neues, wenn ich dir sage, wie ähnlich du ihr bist?«