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Arri wusste nicht genau, was sie darauf sagen sollte, und so fuhr sie sich nur mit der Zungenspitze über die rissigen Lippen und reckte den Kopf, um die Dunkelheit hinter Rahn mit Blicken zu durchdringen. »Hast du...?«

»... etwas zu essen mitgebracht?«, führte Rahn den Satz zu Ende. Statt die Frage zu beantworten, sah er rasch in die Dunkelheit auf der anderen Seite des Raumes und tauchte nur einen Herzschlag später wieder daraus auf, zwei flache, hölzerne Schalen in den Händen haltend. »Sicher. Warum hätte ich sonst kommen sollen?«

Arri hatte das sonderbares Gefühl, dass er eine ganz bestimmte Antwort auf diese Frage erwartete, doch statt irgendetwas zu sagen, stemmte sie sich halb in die Höhe und riss ihm die Schale mit Wasser regelrecht aus der Hand. Sie war so gierig, dass sie einen gut Teil der kostbaren Flüssigkeit verschüttete, bevor ihre Vernunft wieder die Oberhand gewann und sie die letzten Schlucke bedächtig und ganz bewusst langsam trank. Und auch mit dem Brei erging es ihr nicht sehr viel besser. In Windeseile löffelte sie die Schüssel mit den Fingern leer und leckte sie anschließend so gründlich und lange aus, bis Rahn ihr die Schale aus den Fingern nahm und den Kopf schüttelte.

»Nicht, das du am Ende noch Splitter in der Zunge hast«, sagte er spöttisch. »Sie ist auch so schon spitz genug.«

»Danke«, sagte Arri.

»Sie geben dir nicht genug zu essen«, vermutete Rahn.

»Nein«, sagte Arri. Warum stellte er diese Frage? Wäre er der Meinung gewesen, es wäre anders - warum hätte er dann das Risiko auf sich nehmen sollen, sich hier hereinzuschleichen?

»Ich werde Nor davon berichten«, murmelte Rahn. Er klang verärgert. »Das verspreche ich dir.«

»Wahrscheinlich lassen sie mich auf Nors Befehl allmählich verhungern«, erwiderte Arri, aber nun schüttelte Rahn heftig den Kopf und wirkte noch ärgerlicher.

»Nein!«, beharrte er. »Ich weiß, dass er den ausdrücklichen Befehl erteilt hat, dir genug zu essen und Wasser zu bringen und auch sonst dafür zu sorgen, dass dir kein Leid geschieht.« Er machte ein ärgerliches Geräusch. »Wahrscheinlich behalten die Wachen den größten Teil deiner Ration für sich und geben dir nur gerade genug, damit du am Leben bleibst.«

»Wenn du wirklich glaubst, dass ich genug zu essen bekomme, warum bist du dann überhaupt hier?«

Rahn lachte. Es klang nicht ganz echt. »Wann hätte ein Mädchen in deinem Alter jemals genug zu essen bekommen, um satt zu werden?«

»Und warum sollte Nor so um mein Wohl besorgt sein?«, beharrte Arri. »Ausgerechnet er?«

Wieder lachte Rahn, aber jetzt war es ein Geräusch, das die genau gegenteilige Wirkung auf Arri hatte. »Ganz bestimmt nicht, weil er dich so sehr ins Herz geschlossen hat, Arianrhod.« Arianrhod? Arri sah den breitschultrigen Schatten über sich verwirrt an. Wieso gebrauchte Rahn ihren wirklichen Namen? Und woher kannte er ihn überhaupt? »Warum dann?«, fragte sie.

Rahn kam wieder näher und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken. Er stellte die beiden leeren Schalen ineinander, um eine Hand frei zu haben, griff dann unter seinen Mantel und förderte einen kleinen Apfel zu Tage, den er Arri zuwarf. »Das weiß ich nicht.«

Arri war so überrascht, dass ihr der Apfel durch die Finger glitt und zu Boden fiel. Hastig hob sie ihn auf, führte ihn ohne viel Nachdenken zum Mund und biss hinein. Er war winzig, verschrumpelt und braun und sah nicht nur so aus, sondern schmeckte auch irgendwie so, als wäre er nicht von der letzten, sondern von der vorletzten Ernte übrig geblieben, und dennoch hatte sie in diesem Moment das Gefühl, noch niemals etwas Köstlicheres gegessen zu haben. Eine Woge tiefer Dankbarkeit überflutete sie, und am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte Rahn in die Arme geschlossen, wäre sie nicht voll und ganz damit beschäftigt gewesen, zu kauen und das Gefühl zu genießen, endlich wieder etwas zwischen den Zähnen zu haben, was nicht breiig und ansonsten nach gar nichts schmeckte.

Als Arri fertig war, lächelte sie dankbar und schielte gierig auf Rahns Umhang, doch der Fischer schüttelte nur bedauernd den Kopf. »Das war alles. Mehr konnte ich nicht stehlen, ohne dass es aufgefallen wäre.«

»Stehlen«, wiederholte Arri. Sie lächelte oder versuchte doch zumindest, ihre gesprungenen Lippen zu etwas zu verziehen, was wie ein Lächeln aussah. »Ich wusste immer, dass du ein unehrlicher Mensch bist - aber ein Dieb?«

Rahn schien einen Moment lang ernsthaft über diese Worte nachdenken zu müssen, dann beschloss er wohl, dass es das Beste war, sie überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Du hast mich gefragt, warum ich gekommen bin.« Arri nickte, und Rahn schwieg abermals für eine geraume Weile, in der er sehr aufmerksam und sehr nachdenklich wirkte. »Ich habe etwas von deiner Mutter gehört.«

»Von meiner Mutter?!« Arri setzte sich kerzengerade auf. »Wo ist sie? Wie geht es ihr?«

Rahn hob besänftigend die Hände. »Das weiß ich nicht«, sagte er rasch und bedeutete ihr gleichzeitig mit einer fast erschrockenen Bewegung, leiser zu sprechen. Arri hatte vor lauter Überraschung fast geschrieen.

Kaum einen Deut leiser als zuvor fuhr sie fort: »Aber gerade hast du doch gesagt, dass...«

»Nors Krieger suchen immer noch die Wälder im weitem Umkreis nach ihr ab«, fiel ihr Rahn ins Wort und winkte noch einmal und heftiger ab, wobei er das Gesicht verzog, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. »Es ist ihnen nicht gelungen, sie aufzuspüren, aber sie haben ihre Fährte entdeckt, und einer der Männer behauptet nicht nur, sie gesehen, sondern sogar, ihr gegenübergestanden zu haben. Ich glaube allerdings«, fügte Rahn mit einem angedeuteten Achselzucken hinzu, »dass er lügt.«

»Warum?«, fragte Arri.

»Weil er noch am Leben ist.« Rahns Versuch, einen Scherz zu machen, misslang kläglich, als er fortfuhr: »Es sei denn, dass es deiner Mutter wirklich nicht besonders gut geht. Aber dann«, fügte er eindeutig überhastet hinzu, »hätten Nors Krieger sie wahrscheinlich längst eingefangen. Sie sind gut, weißt du?«

»Nein«, antwortete Arri finster. »Immer wenn ich dabei war, hat meine Mutter sie besiegt.«

Rahn machte eine rasche, ungeduldige Handbewegung. »Auch wenn Lea besser mit dem Schwert umgehen kann, bedeutet das doch nicht, dass sie schlecht sind. Und schon gar nicht dumm. Nor sucht seine Männer sehr sorgfältig aus. Schließlich ist es eine Ehre, bei ihm zu dienen.«

»Du scheinst ja dein Herz an Nor verloren zu haben«, erwiderte Arri giftig. »Bist du hergekommen, um ein Loblied auf ihn zu singen?«

»Du solltest deine Feinde nie unterschätzen«, erwiderte Rahn ernst. »Schon gar nicht, wenn sie so mächtig sind wie Nor. Narren erringen selten große Macht. Und wenn doch, dann behalten sie sie nicht lange.«

»Und?«, fragte Arri misstrauisch. »Warum erzählst du mir das alles?«

»Ihr wart auf dem Weg in die Berge, nicht wahr«, fragte Rahn, statt ihre Frage zu beantworten, »um euch den Fremden anzuschließen?«

Arri sagte nichts dazu, aber sie fragte sich verwirrt, worauf Rahn überhaupt hinauswollte. Er kannte die Antwort auf seine eigene Frage ebenso gut wie sie. »Du warst doch dabei.«

Rahn machte eine unwillige Geste. »Ich will nicht wissen, was deine Mutter mir gesagt hat«, antwortete er scharf. »Stell dir vor, daran erinnere ich mich selbst. Ich will wissen, was ihr wirklich vorgehabt hattet.«

»Ich weiß auch nicht mehr als du«, sagte Arri störrisch. Was wollte er eigentlich von ihr hören? »Wir wollten zu Dragosz, um uns ihm und seinem Volk anzuschließen. Warum?«

»Genau das frage ich mich auch«, sagte Rahn.

»Wie?« Arri blinzelte verständnislos.

»Deine Mutter war in unserem Dorf vielleicht nicht sehr beliebt, aber ihr hattet ein gutes Leben«, antwortete Rahn. »Ihr hattet immer genug zu essen, und die Menschen haben euch respektiert.«