»Respektiert?« Arri ächzte übertrieben. »Das ist komisch. Irgendwie hatte ich immer ein ganz anderes Gefühl.«
»Du irrst dich«, behauptete Rahn. »Gleich, wie sehr Sarn sie auch aufzuhetzen versucht hat: Die Leute haben nicht vergessen, was deine Mutter für das Dorf getan hat.«
»Was sollte das schon groß sein?«, fragte Arri störrisch. »Sie hat eure Verletzten und Kranken gepflegt und euch ein paar Dinge beigebracht, auf die ihr wahrscheinlich im Lauf der Zeit auch von selbst gekommen wärt.«
»Ich glaube beinahe, du hast wirklich keine Ahnung.« Rahn schüttelte den Kopf. »Ich bin vielleicht nicht so viel älter als du, aber ich kann mich noch gut erinnern, wie es war, bevor ihr in unser Dorf gekommen seid. Die Alten erzählen oft genug davon, und auch ich kenne diese Zeit noch.« Er sah sie nachdenklich an. »Wann hast du das letzte Mal gehungert?«
»Heute«, antwortete Arri wahrheitsgemäß. Ihr Magen knurrte gehorsam, um ihre Behauptung zu unterstreichen, und Rahn lächelte flüchtig, wurde aber sofort wieder ernst.
»Ich meine wirklich gehungert«, beharrte er. »Nicht einen Tag oder einen Monat, sondern einen ganzen Winter lang? Kennst du das Gefühl, nicht zu wissen, ob du das nächste Frühjahr noch erleben wirst, weil der Hunger dir die Eingeweide zerreißt und die Vorräte schon längst verdorben sind? Weißt du, wie es ist, wenn du deine Brüder und Schwestern vor Hunger sterben siehst und dich fragst, ob du vielleicht der Nächste bist?«
»Nein«, sagte Arri.
»Woher auch?«, schnaubte Rahn. »Ich kenne es, und jeder, der älter ist als ich, kennt es auch. Die Alten erzählen von Jahren, in denen nur die Hälfte des Dorfes noch am Leben war, wenn der Schnee schmolz. Und weißt du, warum du diese Zeit nie erlebt hast?«
»Nein«, antwortete Arri, »und es kümmert mich auch nicht! Bist du nur hergekommen, um...«
»Weil es sie nicht mehr gibt, seit deine Mutter zu uns gekommen ist«, fuhr Rahn ungerührt fort. »Deine Mutter hat uns so viel Neues gelehrt. Die Felder bringen reichere Ernten ein, und die Jäger wissen stets, wo sie das meiste Wild erlegen können. Sie hat uns gelehrt, bessere Werkzeuge zu schmieden und die Saat stets zum rechten Zeitpunkt auszubringen...« Er schüttelte den Kopf, um klarzumachen, dass er die Aufzählung noch eine geraume Weile fortsetzen könnte, machte dann aber nur eine abschätzende Handbewegung. »Deine Mutter hat dem Dorf Wohlstand und Sicherheit beschert, Arianrhod, und die Leute wissen das.«
»Wenn es wahr ist, dann haben sie eine sehr seltsame Art, ihre Dankbarkeit zu zeigen«, sagte Arri spitz und fügte in Gedanken hinzu: dich eingeschlossen; vorsichtshalber aber wirklich nur in Gedanken. Dennoch sah Rahn sie so vorwurfsvoll an, als hätte sie genau diesen Gedanken laut ausgesprochen. Dann aber zog er nur die linke Augenbraue hoch und fuhr fort: »Manchmal ist es schwer, immer nur Dankbarkeit zu zeigen. Die Leute fühlen sich in der Rolle des ewigen Bittstellers nicht wohl.«
Arri sah ihn verständnislos an.
»Geht es dir nicht auch so?«, fragte Rahn. »Ich meine: Was ist dir lieber? Immer nur von einem Almosen leben zu müssen oder von deiner eigenen Hände Arbeit?«
Arri sah ihn nur mit noch größerer Verständnislosigkeit an, und Rahn seufzte leise und schüttelte den Kopf. Er wirkte enttäuscht.
»Warum erzählst du mir das alles?«, wollte Arri wissen.
»Vielleicht, damit du verstehst, warum die Menschen im Dorf so zornig auf euch sind«, antwortete Rahn ernst.
Diesmal musste Arri ihrer Verständnislosigkeit nicht einmal sehr spielen. »Sie sind zornig auf uns, weil sie uns Dank schulden?«, murmelte sie verwirrt. »Was ist denn das für ein Unsinn?«
»Seit ihr in unser Dort gekommen seid«, antwortete Rahn ruhig, »hat deine Mutter den Menschen gezeigt, um wie viel größer ihr Wissen ist. Sie ist es, denen sie bessere Ernten verdanken. Niemand muss mehr Angst haben, den nächsten Winter nicht mehr zu überleben oder zu sterben, weil er sich in den Finger geschnitten und die Wunde sich entzündet hat.« Er schüttelte heftig den Kopf, obwohl Arri gar nicht versucht hatte, zu widersprechen oder auch nur irgendetwas zu sagen, und fuhr lauter und in fast vorwurfsvollem Ton fort: »Aber sie hat ihr Wissen nie mit anderen geteilt. Sie behält es eifersüchtig für sich und hütet es wie einen Schatz. Die Menschen im Dorf wissen, dass es ihnen weiter gut geht, solange deine Mutter bei ihnen ist, und nun will sie gehen. Einfach so. Und du erwartest Dankbarkeit?«
»Was denn sonst«, gab Arri patzig zurück. »Aber wenn sie nicht wollen, ist es auch gut. Und dann ist es ja wohl sowieso das Beste, wenn wir euch nicht länger zur Last fallen. Ganz abgesehen davon, dass Sarn uns sowieso schon lange am liebsten mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt hätte und Nor uns unter Druck gesetzt hat.«
Rahn schüttelte entschieden den Kopf. »Es geht hier nicht um Sarn oder Nor. Die Menschen, die dich und deine Mutter vor vielen Jahren aufgenommen haben, können euch nicht einfach so gehen lassen. Was erwartest du? Deine Mutter ist ihnen etwas schuldig.«
»Ach, und was?«, erwiderte Arri höhnisch. »Was habt ihr für uns getan, dass wir euch etwas schuldig sind?«
Ein Ausdruck leiser Überraschung erschien in Rahns Augen, dann aber schüttelte er nur noch einmal und diesmal heftiger den Kopf.
»Ihr könnt nicht einfach irgendwo hingehen und die Leute die Brosamen von eurem Tisch aufsammeln lassen, solange es euch gefällt, und dann weiterziehen. Ich mag Nor nicht. Er ist ein grausamer Herrscher, ungerecht und selbstsüchtig. Aber er hat Recht.«
»Womit?«, fragte Arri.
»Mit dem, was er tut«, antwortete Rahn. Er hob die Schultern. »Man mag über die Art streiten, wie er seinen Willen durchzusetzen versucht, doch er hat Recht. Es wäre die verdammte Pflicht deiner Mutter gewesen, ihm das Geheimnis ihrer Magie zu verraten. Du kannst nicht irgendwo hingehen, eine Weile bleiben und tun, was immer du willst, und dann einfach wieder verschwinden, als wäre nichts geschehen!«
»Du bist wirklich nur hergekommen, um Nor zu verteidigen, wie?«, fragte Arri.
»Nein«, antwortete Rahn rundheraus. »Ich bin hier, weil Nor mir den Auftrag gegeben hat, mich in dein Vertrauen zu schleichen und dich auszuhorchen.«
Hätte Arri in diesem Moment noch einen Bissen des Apfels im Mund gehabt, er wäre ihr vermutlich im wahrsten Sinn des Wortes im Halse stecken geblieben. Aus aufgerissenen Augen starrte sie Rahn an und suchte - vergeblich - nach irgendeinem Anzeichen von Spott oder Hohn in seinem Gesicht, aber da war nichts. Er meinte diese Worte vollkommen ernst. »Und das... das... sagst du mir einfach so ins Gesicht?«, ächzte sie.
»Wäre es dir lieber, ich würde dich belügen?«, erwiderte Rahn.
»Du... du willst mich verhöhnen«, murmelte Arri. »Du sagst das nur, um...«
»... dir zu beweisen, dass du mir trauen kannst«, unterbrach sie Rahn.
Von allen verdrehten Gedanken, die er bisher geäußert hatte, fand Arri, war das der mit Abstand albernste. Dennoch sagte sie nichts dazu, und Rahn kam wieder ein Stück näher, hütete sich aber, den Abstand zu unterschreiten, mit dem ihr seine Nähe unangenehm hätte werden können. »Hast du wirklich geglaubt, ich könnte mich jede Nacht hier hereinschleichen, ohne dass die Wachen es merken?«, fragte er und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Goseg ist groß, aber doch nicht so groß, dass so etwas unbemerkt bliebe. Nor hat mich beauftragt, mit dir zu reden und dich auszuhorchen.«
»Und es mir zu sagen?«
Rahn lächelte, aber nur knapp. »Nein, das vielleicht nicht«, gestand er. »Ich bin ganz ehrlich zu dir, Arianrhod. Damit du begreifst, dass ich nicht dein Feind bin.«
»O ja, ich verstehe«, antwortete Arri verwirrt. »Du verrätst deinen Herren, um mir zu beweisen, dass ich dir trauen kann? Das macht Sinn.«
Ganz kurz huschte ein Ausdruck von Zorn über Rahns Gesicht, verschwand dann aber wieder. »Ich verrate ihn nicht«, behauptete er, »und Nor ist nicht mein Herr. Mein Leben gehört mir, wenn schon nichts anderes.«