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»Und was erwartest du nun als Gegenleistung für deine große Ehrlichkeit?«, erkundigte sich Arri. »Dass ich jetzt meinerseits meine Mutter verrate?«

»Dasselbe«, sagte Rahn. »Dass du ehrlich zu mir bist. Ich war bereit, alles aufzugeben und mein Leben hinter mir zu lassen, um deiner Mutter und dir zu folgen. Als Dank hat sie mich verraten. Was erwartest du, wie ich darauf reagieren soll?«

»Ich weiß nicht, was du von mir willst«, antwortete Arri unwirsch. »Ich kann dir nicht mehr sagen, als du schon weißt.«

»Die Fremden«, beharrte Rahn. »Das Volk eures neuen Freundes... kennst du den Weg dorthin?«

»Nein«, antwortete Arri, was nicht nur die Wahrheit war - sie sah Rahn auch an, dass er ihr keine andere Antwort geglaubt hätte.

»Aber du weißt, wie man sie findet?«

»Und wenn ich es wüsste - warum sollte ich es dir sagen?«, gab Arri misstrauisch zurück. »Damit du zu Nor gehst und es ihm erzählst?«

»Du begreifst anscheinend immer noch nicht, in welcher Lage du dich befindest.«

»Mit dem Rücken an der Wand?«, erkundigte sich Arri.

»Das ist nicht witzig, Arianrhod!« Plötzlich war in Rahns Stimme ein Ernst, der das spöttische Lächeln auf ihrem Gesicht gefrieren ließ. »Sarn wollte dich töten. Nor ist klüger und hat erkannt, dass du uns lebend von größerem Nutzen bist als tot, aber das heißt nicht, dass er weniger gefährlich wäre. Ganz im Gegenteil. Er wird so oder so alles erfahren, was er von dir wissen will. Die Frage ist nur, wie schlimm es für dich wird.«

Wenn er es darauf angelegt hatte, ihr Angst zu machen, dachte Arri, dann war es ihm gelungen. Trotzdem zwang sie sich noch einmal zu einem Grinsen und fragte mit einem treuherzigen Augenaufschlag: »Wenn er glaubt, einer Hexe wie mir damit Angst machen zu können, hat er sich aber schwer getäuscht.«

Diesmal blitzte es eindeutig wütend in Rahns Augen auf, und sie sah, wie er zu einer entsprechenden Antwort Luft holte, es dann aber nur bei einem Seufzen und einem angedeuteten Kopfschütteln beließ. Plötzlich stand er auf. »Also gut«, sagte er, lauter und in verändertem Tonfall. »Du hast noch ein wenig Zeit, um nachzudenken. Aber nicht mehr allzu viel.«

»Wieso?«, fragte Arri. »Worüber nachzudenken?«

»Zum Beispiel über die Frage, was du den Menschen hier schuldig bist«, antwortete Rahn, »und sie dir. Nor hat einen Boten ins Dorf geschickt, der Sarn und den blinden Schmied nach Goseg bringen soll. Sobald sie eintreffen, werden sie zu Gericht über dich sitzen. Morgen, spätestens aber am Tag danach.«

»Über mich?«, wiederholte Arri verständnislos. »Aber wieso über mich? Ich... ich habe nichts getan!«

Rahn hob übertrieben die Schultern, wie um klarzumachen, dass ihn das nichts anging und auch nicht wirklich kümmerte. »Ich sorge dafür, dass du morgen etwas Anständiges zu essen bekommst«, sagte er, statt auch nur mit einer einzigen Silbe auf ihre Frage einzugehen. Dann wandte er sich um, machte einen Schritt in Richtung der Tür und blieb noch einmal stehen. Sein Gesicht war wieder im Schatten verschwunden, sodass Arri es nicht erkennen konnte, aber sie hörte, wie er übertrieben schnüffelte.

»Und einen Eimer Wasser«, fügte er hinzu. »Du stinkst, als hättest du drei Jahre in der Jauchegrube gelegen.«

29

Rahn hielt Wort - zumindest, was den ersten Teil seines Versprechens anging. Die Männer, die am nächsten Tag zu ihr kamen, um ihr Essen und Wasser zu bringen (es waren nicht Jamu und sein Kamerad, die sie kannte), behandelten sie zwar nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht mehr wie ein gefährliches Tier, und das Essen, das sie brachten, schmeckte zwar keinen Deut besser als zuvor, dafür fiel aber die Portion deutlich größer aus, sodass sie zum ersten Mal seit ihrem Erwachen in diesem steinernen Käfig vielleicht nicht wirklich satt war, aber auch nicht mehr das Gefühl hatte, verhungern zu müssen. Wasser zum Waschen wurde ihr nicht gebracht, und es schien auch so, dass Sarn und wen auch immer Nor aus dem Dorf hierher befohlen hatte, noch nicht in Goseg eingetroffen waren, denn der Tag ging zu Ende, ohne dass irgendjemand sie holte, und Rahn kam in der darauf folgenden Nacht nicht mehr zu ihr.

In der nächsten auch nicht.

Es vergingen noch zwei weitere Tage, bis sich etwas an der Eintönigkeit änderte, mit der die Zeit verstrich. Kurz nach Sonnenaufgang des dritten Tages seit ihrem Gespräch mit dem Fischer (Arri war mittlerweile übrigens sicher, dass Rahn alles war, nur kein Fischer) wurde die Tür ihres Gefängnisses unsanft aufgestoßen, und ihre beiden neuen Bewacher kamen herein. Sie brachten weder Essen noch Wasser, sondern bedeuteten ihr nur mit befehlenden Gesten, aufzustehen und ihnen nach draußen zu folgen.

Arri erhob sich zwar gehorsam und machte einen ersten, noch zögernden Schritt zur Tür hin, was ihr Knie mit einem scharfen Stich quittierte, blieb dann aber unvermittelt stehen, hob die linke Hand über die Augen und blinzelte geblendet in das grelle Licht des Morgens. Der Himmel war bedeckt, und allein der schneidende Wind, der ihr entgegenschlug und so spielend durch ihre Kleider drang, als wären sie gar nicht vorhanden, überzeugte sie davon, dass die Sonne am Himmel gar nicht so hell sein konnte, wie es ihr vorkam. Die Luft roch so intensiv nach Schnee, dass sie beinahe überrascht war, es nicht unter ihren nackten Füßen knirschen zu hören, als einer der beiden Männer sie mit einer unwilligen Bewegung aufforderte weiterzugehen. Doch ihre Augen hatten sich an das trübe Zwielicht des fast fensterlosen Gefängnisses gewöhnt, in dem sie so viele Tage verbracht hatte. So sehr sie es sich auch gewünscht hatte, die steinernen Wände ihres Kerkers mit bloßen Händen einreißen zu können, schien die ungewohnte Weite, in die sie nun hinaustrat, doch plötzlich von allen Seiten auf sie einzustürmen und ließ sie schwindeln.

Sie taumelte, griff unwillkürlich Halt suchend um sich und bekam tatsächlich etwas zu fassen; etwas, das warm und struppig war und mit einem unwilligen Laut auf die grobe Berührung reagierte. Im nächsten Augenblick spürte sie einen Schlag ins Gesicht, der nicht wirklich hart genug war, um wehzutun oder sie gar von den Füßen zu reißen, in seiner Bedeutung aber unmissverständlich war. Ihre neuen Bewacher mochten rücksichtsvoller sein als Jamu und sein Begleiter, doch auch ihre Langmut hatte Grenzen.

Arri fand mit einem raschen Schritt ihr Gleichgewicht wieder, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Lippen nicht aufgeplatzt waren, und beeilte sich dann weiterzugehen, als der Mann, an dessen Haar sie sich gerade versehentlich festgehalten hatte, eine nun eindeutig zornige Geste machte. Immerhin hatte der kurze Zwischenfall ihren Augen Gelegenheit gegeben, sich an das grelle Licht zu gewöhnen, sodass sie nun nicht mehr das Gefühl hatte, ständig durch einen Schleier aus Tränen hindurchsehen zu müssen.

Was sie erblickte, war allerdings eher eine Enttäuschung. In jener Zeit ihrer Gefangenschaft, in der sie nicht mit dem Schicksal gehadert, über Rahn oder Nor nachgedacht oder sich gewünscht hatte, dass ihre Mutter kam, um diesem Albtraum endlich ein Ende zu bereiten, hatte sie sich vorzustellen versucht, was jenseits der undurchdringlichen Mauern ihres Gefängnisses liegen mochte. Aber die Wahrheit blieb selbst hinter ihrer vorsichtigsten Vorstellung zurück. Wenn das hier tatsächlich Goseg war, dann war es vollkommen anders, als sie es sich ausgemalt hatte. Es gab keine goldenen Türme und trutzigen Mauern, keine prachtvollen Straßen und Säulenhallen und gepflasterten Plätze wie die aus ihrer Heimat, von denen ihr Lea an einem stillen Abend erzählt hatte.

Das Haus, in dem sie eingesperrt gewesen war, befand sich auf der Schmalseite eines kleinen, halbrunden Platzes, dessen Abmessungen hinter denen ihres heimatlichen Dorfplatzes eindeutig zurückblieben. Das einzig Besondere hier war vielleicht, dass sämtliche Gebäude aus Stein errichtet waren, doch es war nur eine Hand voll, und sie waren eher klein - nicht deutlich größer als die Hütten, in denen die Menschen in ihrem Dorf lebten. Die Gucklöcher waren winzig, gerade handbreite Öffnungen, die wie furchtsam blickende Augen unter den weit überhängenden Dächern hervorlugten. Zwischen den einzelnen Gebäuden befanden sich nur schmale Lücken, kaum breit genug, um jemandem von ihrer Statur Durchlass zu gewähren, geschweige denn einem Erwachsenen, die dafür aber allen möglichen Unrat beherbergten, während der Platz selbst tadellos ordentlich und sauber wirkte.