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Auf der anderen Seite lag eine etwas breitere Straße, die nach vielleicht einem oder zwei Dutzend Schritten vor einer mehr als mannshohen Palisadenwand aus angespitzten Baumstämmen endete, in der sich ein zweiflügeliges Tor befand, das im Augenblick allerdings geschlossen war. Ganz offensichtlich war Goseg umfriedet, aber das war auch schon alles, was sie darüber sagen konnte, und ihr blieb keine Zeit für einen zweiten, aufmerksameren Blick in die Runde, denn ihre Bewacher führten sie nicht fort, sondern nur geradewegs auf die andere Seite des Platzes und in ein weiteres, steinernes Gebäude.

Wie das Haus, in dem sie gefangen gewesen war, bestand es nur aus einem einzigen, rechteckigen Raum, der allerdings vier schmale Gucklöcher hatte - zwei auf jeder Seite - und nicht leer war. Arri erblickte eine erloschene Feuerstelle, deren weiße Asche noch nicht allzu lange erkaltet sein konnte, denn es war hier drinnen merklich wärmer als draußen auf dem Platz oder auch nur in ihrer Unterkunft, ferner eine niedrige Lagerstatt mit einer aus Gras geflochtenen Matratze, die sich in einem so erbärmlichen Zustand befand, dass Arri sie längst fortgeworfen und eine neue geflochten hätte, sowie mehrere wenig kunstvoll angefertigte Bastkörbe mit einem schweren Tongefäß unbekannten Inhalts, das mit einem ölgetränkten Lappen verschlossen war. Darüber hinaus gab es zwei hölzerne Eimer randvoll mit Wasser, zwischen denen ein niedriger, dreibeiniger Schemel stand, auf dem etwas lag, das Arri im ersten Moment für ein schmutziges Tuch hielt, bis sie erkannte, dass es ein Kleid war.

»Wasch dich«, sagte einer der beiden Männer. »Und zieh das andere Kleid an. So schmutzig kannst du nicht vor den Hohepriester treten.«

Arri drehte den Kopf und sah überrascht zu den beiden Wachen zurück. Sie war erschrocken, obwohl sie doch eigentlich hätte wissen müssen, warum man sie aus ihrem Gefängnis holte. Dann nahm Erstaunen dem Platz des Schreckens ein, als die beiden ohne ein weiteres Wort nicht nur das Haus verließen, sondern auch die Tür hinter sich schlossen. Jamu und sein Begleiter hätten wohl eher das genaue Gegenteil getan und ihr in aller Ausführlichkeit dabei zugesehen, wie sie sich auszog und wusch. Anscheinend hatte Rahn tatsächlich mit dem Herrn von Goseg gesprochen.

Sollte sie das beruhigen? Arri dachte einen Moment lang ernsthaft über diese Frage nach, kam aber zu keiner Antwort, und was hätte es ihr auch genutzt? Sie hob die Schultern, trat dichter an den Schemel heran und nahm das Kleid in Augenschein, das darauf lag. Es war ihr viel zu groß und von einem Schnitt, der sie weit mehr an einen Sack denken ließ denn an etwas, das man anziehen konnte.

Achselzuckend ließ sie das Kleid wieder sinken. Auch darüber nachzudenken war reine Zeitverschwendung, denn ihr war klar, dass ihre beiden Bewacher darauf bestehen würden, dass sie es anzog. Also überzeugte sie sich mit einem raschen Blick noch einmal davon, dass die Tür auch tatsächlich geschlossen und sie unbeobachtet war, und streifte dann mit einer raschen Bewegung ihre Kleider ab.

Erst, als sie sie zu Boden warf, sah sie, wie hoffnungslos verdreckt und an zahllosen Stellen zerrissen sie tatsächlich waren. Aber genau genommen bot sie selbst auch keinen sehr viel besseren Anblick. Auch sie starrte vor Schmutz, und nun, einmal an der frischen Luft gewesen, konnte sie Rahns Bemerkung, über die sie sich mehr geärgert hatte, als sie zugeben mochte, sehr viel besser verstehen.

Er hatte Recht gehabt.

Aber es war nicht nur der Schmutz. Arri sah noch einmal und aufmerksamer an sich herab und verzog die Lippen zu einer Grimasse. Unter all dem Dreck hatte sie noch immer zahllose Schrammen, mehr oder weniger verschorfte Wunden und blaue Flecken. Auch, wenn ihr Bein mittlerweile kaum noch wehtat und sie nur noch ganz leicht humpelte, so war es doch noch immer deutlich angeschwollen, und unter der Kniescheibe zeichnete sich eine halbmondförmige, dunkelblaue Verfärbung ab, die sie in jedem Fall sofort von ihrer Mutter hätte behandeln lassen. Es war seltsam, aber gerade der Anblick der Schwellung ließ sie ihre Mutter so schmerzlich vermissen, dass sie fast aufgeschluchzt hätte.

Da sie nicht glaubte, dass ihre Bewacher ihr allzu viel Zeit lassen würden, und sie ihnen auch nicht die Genugtuung geben wollte hereinzuplatzen, während sie noch nackt dastand und sich wusch, ließ sie sich rasch vor einem der beiden Eimer in die Hocke sinken und schöpfte sich zwei Hände voll eiskalten, klaren Wassers ins Gesicht. Es war so eisig, dass sie sofort eine Gänsehaut am ganzen Körper bekam und mit den Zähnen zu klappern begann. Dennoch wiederholte sie die Prozedur noch drei- oder viermal, bis sie das Gefühl hatte, wenigstens halbwegs sauber zu sein, dann schöpfte sie weitere Hände voll Wasser und trank solange, bis sie einfach nicht mehr konnte.

In Ermangelung eines Tuches tauchte sie ihr zerrissenes Kleid in den Eimer, wrang den Stoff unter Wasser aus, so gut sie konnte, und reinigte damit anschließend ihren Körper von all dem eingetrockneten Schmutz, Blut und Schweiß; wenigstens an den Stellen, die sie selbst erreichen konnte, und so gut es ging.

Es war eine anstrengende und schmerzhafte Prozedur, aber Arri biss die Zähne zusammen, verbrauchte das ganze Wasser, das man ihr bereitgestellt hatte, und suchte anschließend nach einem trocken gebliebenen Stück des Kleides, um sich damit abzutrocknen. Als sie sah, wie verdreckt der Stoff wirklich war, verwarf sie den Gedanken wieder. Sie hätte sich allerhöchstens wieder schmutzig gemacht. Stattdessen streifte sie sich mit den flachen Händen das Wasser von der Haut, so gut es ging, und schlüpfte anschließend in das Kleid, das man ihr hingelegt hatte. Sein Schnitt blieb so unvorteilhaft, wie er war, und zu allem Überfluss fühlte sich der Stoff so rau an, als hätte sie sich in grobem Sand gewälzt. Jede Bewegung in diesem Albtraum von Kleid musste zur schieren Qual werden. Aber immer noch besser, dachte sie, als in einem blutbesudelten Fetzen vor den Herrn von Goseg zu treten.

Ihre Überzeugung, vollkommen unbeobachtet und sicher zu sein, bekam dann doch einen gehörigen Knacks, als sie sich zur Tür wandte und die Hand hob, um zu klopfen, denn diese wurde aufgerissen, noch bevor Arri sie erreichte, und einer der beiden Krieger winkte sie mit einer herrischen Bewegung heraus. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, aber auf dem des anderen zeigte sich dafür ein umso breiteres Grinsen, das jede weitere Frage Arris überflüssig machte.

Zu ihrer eigenen Überraschung spürte sie, wie sie rot wurde.

Sie warf dem Krieger einen giftigen Blick zu - sein Grinsen wurde noch breiter -, warf mit einer trotzigen Bewegung den Kopf in den Nacken und trat so gelassen zwischen den beiden Männern hindurch, wie sie nur konnte. »Wohin bringt ihr mich?«, fragte sie.

Sie rechnete nicht mit einer Antwort und war fast selbst überrascht, als sie sie bekam.

»Zu Nor. Und jetzt schweig und geh schneller. Der Hohepriester wartet nicht gern.«

Arri beschleunigte ihre Schritte tatsächlich. So lange sie Acht gab, machte ihr Bein ihr nicht allzu viel zu schaffen, aber sie spürte, dass sich das bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung sehr schnell ändern würde. Ihre Begleiter wirkten wenig begeistert, ersparten sich aber jede weitere Bemerkung und beließen es dabei, sie mit unwilligen Gesten vor sich herzuscheuchen. Doch sie rührten sie nicht an.